Bis die Blase platzt

In Göttingen stürzen sich ein Theaterregisseur und ein Soziologe auf Goethes „Faust II“. Heraus kommt ein anregender Science-Slam, der Goethes Denken auf den Punkt bringt

Schalk trifft Neugier: Soziologe Münnich und Mephisto Kühn Foto: Thomas Müller

Von Jens Fischer

Hier soll das Wissen der Welt vermittelt werden? Wie ein Mausoleum thront das zentrale Uni-Hörsaalgebäu​de in Sichtbetongrau am Platz der Göttinger Sieben. Im Foyer keinerlei Geste anheimelnder Gestaltung, bunt flimmert auf Videobildschirmen nur die Werbung für Jobs in der verheißungsvollen Wertschöpfungswelt des Kapitalismus. Ihm den Garaus zu machen, dafür werden hinter den Türen des mit 900 Sitzen ausgestatteten Vorlesungssaals 011 schon Pläne geschmiedet. Regisseur Jan Philipp Stange vom Deutschen Theater und Professor Sascha Münnich vom Fachbereich Politische Soziologie und Sozialpolitik haben sich dort gemeinsam auf Goethes „Faust II“ gestürzt.

Schauspieler Nikolaus Kühn kommt im theaterhistorischen Mephisto-Kostüm hinzu und schwärmt den verloren im Raum verstreuten Zuschauern von den Möglichkeiten des totalen Theaters vor: Mit den Forstwirtschaftsstudenten und dem Zentrum für Biodiversität sei ein komplettes Biokreislaufsystem für den Hörsaal geplant – mit lieblich arrangierten Bäumen, Wiesen, plätscherndem Bächlein, Vogelgezwitscher und sonnengelb blinzelnden Lichteffekten. „Anmuthige Gegend“, wie es in Goethes Szenenanweisung heißt.

Auch der Goethe’sche Homunkulus sei von Biochemikern und Philosophen des Hauses bereits gebastelt worden. Aber der habe dann auf den Proben sowas wie Mindestlohn für seine Performance verlangt. All die anderen freischaffenden Mitarbeiter seien ihm gefolgt – und dann ausgestiegen, als der Intendant die Gagen kürzte, weil der Ticketverkauf gestockt habe. Er und Münnich müssten als Festangestellte ihrer Institutionen „Faust II“ nun allein stemmen – „unmöglich“.

Absage an Trugbilder

Der Schauspieler will daher den Besuchern das Eintrittsgeld zurückgeben. Dass er die Tickets als Schuldscheine verstehe, die er als Darsteller mit einer Aufführung bedienen müsse – damit sei man doch mitten im Thema: beim Geld, das die Welt im Innersten zusammenhält, wirft Münnich ein. Das wolle er nun mal erklären.

Dieses bestens einstudierte Verwirr- als Vorspiel macht prima das Regiekonzept deutlich: eine Absage an Goethes Trugbilder, die verzwickte Erzählung und das Sammelsurium der Anspielungen – volle Konzentration auf den Inhalt.

Münnich beginnt im kauzig kabarettistischen Tonfall eine Einführungsvorlesung in Volkswirtschaft: „Science and Fiction (Faust II)“. Kühn rückt mit Goethe-Zitaten immer wieder das Stück als Referenzmedium in den Fokus, ist aber auch Diskurs­partner und literarischer Stichwortgeber des Soziologen.

Nicht als Erster denkt der die 2. Szene des 1. Aktes von heute her. Gibt es dort doch einen Kaiser, dessen Prunksucht den Staat in den Bankrott treibt. Mephisto hilft mit einem Trick und definiert schlichte „Zettel“ in kaufkräftiges Geld um – Wertschöpfung aus dem Nichts. Und der Kaiser behauptet mit seiner Unterschrift auf den frisch bedruckten Blättern, dass sie abgesichert seien durch die noch abzubauenden Bodenschätze.

Heute gibt es keine Deckungspflicht der Banknoten mehr, statt des Kaisers verbürgt sich aber der EZB-Präsident per Autogramm auf den Euros, dass die Summe des im Umlauf befindlichen Geldes der gesellschaftlich geleisteten Arbeit, den erwirtschafteten Warenwerten entspricht.

Aber Goethe habe, daran erinnert Münnich, die Probleme des Gelddruckens in „Faust II“ gleich mitbedacht. Bald nämlich komme es im Kaiserland zu Inflation, Staatskrise, Krieg und Zerstörung des Reichs, „darauf folgt ein Wirtschaftswunder, Faust wird Industrieller, der Kapitalismus siegt, Goethe erzählte 1832 die Geschichte des 20 Jahrhunderts“.Kühn schlussfolgert, nicht das Geld, sondern seine totale Ungleichverteilung müsse abgeschafft werden.

Daraufhin streicht Münnich Goethes Warnung heraus, nicht alle gesellschaftlichen Beziehungen der Geld-Logik zu unterwerfen. Schon gar nicht die von Künstler und Publikum. „Solange du das Eintrittsgeld nicht zurückgibst, so lange kann hier noch was passieren, zwischenmenschlich, zwischen all den Leuten hier“, sagt Münnich: Nicht weniger als die Rettung der Welt und des Theaters.

Der Wissenschaftspfiffikus regt an, dass die Besucher privat verkünden, „Science and Fiction (Faust II)“ sei „gigantisch, irre, lebensverändernd“. Endlich mal politisch wirkungsmächtiges Theater! Sofort würde alle denken: „Das muss ich gesehen haben.“ Die Folgevorstellungen wären im Nu ausverkauft. Also setze der Intendant für 2020 Hunderte Extrashows an. Auch die Tickets seien sofort vergriffen. Auf dem digitalen Schwarzmarkt steige ihr Preis wöchentlich um fünf bis zehn Prozent, fabuliert Münnich weiter. „Wow, was für eine Rendite“, würden die Finanzjongleure denken und Investmentfonds die Karten im großen Stil aufkaufen.

Science wird Fiction

Dann die erste Aufführung 2020. Science wird Fiction. Die Bundeskanzlerin sitze in der ersten Reihe. Dort würde sie von Münnich dann genau das erfahren, was schon alle in Göttingen hören können: Geld sei nur Schein, Ausbeutung vieler durch wenige einfach Mist und die Jagd nach Wachstum müsse aufhören, da sie Menschen und Natur zerstöre.

„Nicht wirklich neu“, gibt Kühn zu. Und weiß, wenn sich das herumspricht, sinke an den Ticketbörsen sofort der Wert der „Faust II“-Karten. Die damit gesicherten Kredite und gefütterten Anlagenfonds platzten, bankrotte Banken rissen die deutsche Wirtschaft in den Abgrund. „Das Stück muss die Welt verändern, sonst bricht alles zusammen“, das werde die Kanzlerin erkennen, hofft Kühn.

Jedenfalls ist es ein betörend anheimelndes Gedankenspiel, mit dem nebenbei die platzende Spekulationsblase der Weltfinanzkrise 2008 erklärt wird (mit US-Immobilien statt Theatertickets als Risikoinvestment).

Schlicht mitreißend wie Schalk-charmant Münnich all das entwickelt und von Kühn mit mürrischer Neugierde begleitet wird. Ein Art Science-Slam, der Goethes Denken aktuell auf den Punkt bringt. Zwar auf Münnichs Punkt – aber das ist anregend genug. Um nicht zu sagen „gigantisch, irre, lebensverändernd“.

Fr, 24. bis So, 26. 5., 19 Uhr, Universität Göttingen, ZHG 011. Weitere Termine bis 12. 6.