„Ich wurde drei Tage gefoltert“

Der in der Türkei angeklagte Deniz Yücel erhebt schwere Vorwürfe gegen den Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Wir dokumentieren Auszüge aus der Verteidigungsschrift des Türkei-Korrespondenten, der ein Jahr in Untersuchungshaft saß

Deniz Yücel mit seinem Anwalt, seiner Ehefrau und seiner Verteidigungsschrift am Freitag vor dem Amtsgericht Tiergarten in Berlin Foto: Karsten Thielker

Von Deniz Yücel

Im Hochsicherheitsgefängnis Silivri Nr. 9 gibt es strikt geregelte Abläufe (…). Es ist klar geregelt, wer wann die Leibesvisitation durchführt und welcher Beamter den Häftling wohin begleitet. Nachdem ich am 1. März 2017 nach Silivri überführt worden war, wurden auch bei mir bei einem Besuch auf der Krankenstation und zwei Besuchen von Abgeordneten des türkischen Parlaments die üblichen Abläufe eingehalten. Doch nachdem der Staatspräsident am Freitag, den 3. und nochmals am Sonntag, den 5. März die Hetzkampagne gegen mich gestartet hatte, erschien eine sechsköpfige Gruppe an meiner Zellentür, um mich zu einem Treffen mit meinen Anwälten zu bringen.

Angeführt von einem Vollzugsbeamten namens Mustafa Aydın, gehörten zu dieser Gruppe die Aufseher Osman Andıç, Fırat Koçoğlu, Bilgican Kodal, Adem Yada sowie eine sechste Person, dessen Namen die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln konnte. (Ich nenne die Namen, weil jeder Mensch für sein Handeln verantwortlich ist.)

Bereits die Leibesvisitation begann mit einer Grobheit, wie ich sie bis dahin nicht erlebt hatte. Dabei beschimpften mich diese Aufseher als „Vaterlandsverräter“ und „deutschen Agenten“ – Wiederholungen dessen, was der Staatspräsident über mich gesagt hatte.

Statt wie üblich ein Aufseher begleiteten mich nun sechs. Als wir den Hauptkorridor betraten, brüllte einer „Lauf schneller“, während ein anderer schrie „Mach langsam!“ Sie zwangen mich, meinen Kopf zu beugen und mit der Schulter die Wand schleifend zu laufen. Ich schäme mich, dies zu sagen, aber ich fügte mich dieser Anordnung. Ich war neu im Gefängnis, ich war allein und überrumpelt von dieser Situation.

Alle üblichen Abläufe waren außer Kraft gesetzt. Fortan waren es immer dieselben sechs Aufseher, die mich irgendwohin und zurück in meine Zelle brachten. Als ich am folgenden Tag zum Familienbesuch gerufen wurde, erhöhten diese Aufseher das Maß der Schmähungen und Drohungen. Auf dem Korridor verlangten sie erneut, meinen Kopf zu senken. Und als wir an einem Mülleimer vorbeikamen, drohte einer: „Ich werde dich den Mülleimer grüßen lassen. Du wirst sagen: ‚Hallo, mein Bruder Müll.‘ Denn du bist auch Müll.“

Auf dem Rückweg vom Familienbesuch sagte einer dieser sechs: „Wir sollten ihn besuchen.“ Und ein anderer antwortete: „Ja, genau. Dann, wenn er am wenigsten damit rechnet.“ Zwei, drei Stunden später drang diese Gruppe über den Hofeingang in meine Zelle ein. Bis dahin hatte ich noch keine routinemäßige Razzia erlebt; ich wusste also noch nicht, dass diese stets in Begleitung der Gendarmarie abläuft. Eine Gefängniszelle ist kein selbstgewählter Lebensraum. Aber es ist dein Lebensraum. Dass eine große Gruppe in deine Privatsphäre eindringt und sich das Recht herausnimmt, alles zu durchwühlen und zu untersuchen, ist darum immer unangenehm. Bei allen späteren routinemäßigen Razzien habe ich allerdings keine unverhältnismäßige Grobheit erlebt.

Doch das hier war anders. Es waren wieder dieselben sechs Aufseher. Sie warfen meine Sachen durcheinander, zwangen mich dazu, ein paar Zeitungsausschnitte wegzuwerfen, die ich aufgehoben hatte und die zu diesem Zeitpunkt mein einziger Besitz von ideellem Wert waren. Erneut überhäuften sie mich mit Beleidigungen. Weil in den Zellen im Gegensatz zu den Korridoren keine Kameras installiert sind, wurde ich erstmals auch körperlich mit Tritten gegen meine Füße und Schlägen auf Brust und Rücken angegangen. Das Maß der Gewalttätigkeit war nicht allzu hoch, weniger darauf ausgerichtet, mir körperliche Schmerzen zuzufügen, als darauf, mich zu erniedrigen und einzuschüchtern. Womöglich wollte man mich auch zu einer Reaktion provozieren. Doch auch so war dies ein Fall von Folter.

In Erinnerung an das Leid, das Menschen in diesem Land in etlichen Folteranstalten zugefügt wurde, vom Sansaryan-Haus zum Militärgefängnis Diyarbakır Nr. 5, von der Erenköy-Villa zum „Labor für Tiefgehende Untersuchungen“, würde ich es nicht wagen, allein aufgrund der körperlichen Gewalt diese Erfahrung als „Folter“ zu bezeichnen. Aber Folter wird nicht allein durch das Maß der körperlichen Gewalt oder der Grausamkeiten bestimmt. Zur Folter gehört eine psychologische Dimension. Dazu gehört auch, dass sie in organisierter Form angewandt wird. Dass sie darauf abzielt, die Würde des Misshandelten systematisch zu verletzen. Dass die körperliche und seelische Unversehrtheit, letztlich die Sicherheit des Gefangenen allein in der Gewalt seiner Peiniger liegt. Dass es keine Regeln gibt, auf die er sich verlassen und es keine Garantie gibt, dass die Grenzen, an die sie sich heute halten, morgen auch noch gelten. Das Opfer ist vollkommen der Willkür seiner Peiniger ausgeliefert.

So wurde bei mir am folgenden Tag die Gewalt noch einmal erhöht. Erstmals schlug man mir ins Gesicht. Vor diesem Übergriff hatte man mich auf dem Weg zur Krankenstation erneut aufgefordert, meinen Kopf zu senken. Diesmal widersetzte ich mich dieser Anordnung und konnte die Erniedrigung, dies in den ersten beiden Tagen nicht getan zu haben, wenigstens ein bisschen tilgen. Auf dem ganzen Weg zur Krankenstation drohte mir einer der Aufseher: „Ey, runter mit dem Kopf oder ich mache das!“ Auch die Drohung mit dem Mülleimer wiederholte er. In den kamerafreien Treppen wurde ich gegen die Wand gedrängt und auf den Hinterkopf geschlagen.

Da gerade ein anderer Häftling auf der Krankenstation war, schob mich die Gruppe in die auf demselben Gang liegende und ebenfalls kameralose Bibliothek. Der dort tätige Vollzugsbeamte erkannte, dass etwas nicht stimmte, zog es aber vor, sich hinter den Bücherregalen zu verstecken. Ein Aufseher aus der Gruppe schlug mir zweimal hart ins Gesicht, dann streichelte er über meine Wange, während ein anderer fragte: „Was zahlen dir die Deutschen dafür, dass du dein Vaterland verrätst? Sprich oder ich reiße dir die Zunge raus.“ Wie die anderen provokativen Fragen ließ ich auch diese unbeantwortet.

(…)

Der Journalist Deniz Yücel ist in der Türkei wegen „Volksverhetzung“ und „Terrorpropaganda“ angeklagt. Er saß ein Jahr im Hochsicherheitsgefängnis Silivri in Untersuchungshaft. Die türkischen Behörden hatten zugelassen, dass Yücel am Freitag vor dem Amtsgericht Tiergarten in Berlin aussagen konnte.

In seiner 15 Punkte umfassenden Verteidigung erklärt der ehemalige Türkei-Korrespondent der Welt, warum er seine Inhaftierung und seine Freilassung für unrechtmäßig und die türkische Justiz für nicht unabhängig hält.

Warum Yücel dennoch eine Aussage macht, erklärt er so: „So, wie es Ahmet Altan gesagt hat: Obwohl ich weiß, dass kein Recht herrscht, werde ich so tun, als wäre es so. Und so wie Ahmet Şık werde ich mich nicht verteidigen, ich werde anklagen. Ich möchte das, was mir widerfahren ist, fürs Protokoll festhalten.“

Der nächste Prozesstermin vor dem Istanbuler Gericht ist am 16. Juli.

Die vollständige Verteidigungsschrift Yücels lesen Sie auf taz.de.

Am selben Tag waren meine Anwälte gekommen. Noch bevor sie die Tür aufschlossen, rief einer [der Aufseher] von draußen: „Beschwer dich nicht wieder über uns, das bringt dir nichts.“ Er scheint sich seiner Sache sehr sicher. Wieder kam die Aufforderung, meinen Kopf zu beugen, wieder widersetzte ich mich wortlos. Der Aufseher, der mich in der Bibliothek geschlagen hatte, drohte mir nun: „Warte nur, diesen Finger, mit dem du auf mich gezeigt hast, werde ich dir erst in den Mund stecken und dann … ich weiß schon, wohin.“

(…)

„Wir haben dich nicht geschlagen“, fuhr derselbe Aufseher fort. „Wir haben dich gestreichelt. Du weißt nicht, was Gewalt ist. Aber wenn du willst, zeige ich es dir.“ Kurz darauf hörte ich zwischen dem Wortführer und einem anderen diesen Dialog: „Dieser Typ ist echt kaltblütig, er zeigt keine Reaktion.“ – „Wenn er bloß eine Reaktion zeigen würde, würden wir ihm schon die richtige Antwort geben.“ Der Aufseher, der seine Gewaltphantasien nicht im Griff hatte, wiederum antwortete: „Lasst ihn nur. Ich werde ihn dorthin bringen, wo es keine Kameras gibt.“

(…)

Mein Verteidiger Veysel Ok [forderte] einen leitenden Vollzugsbeamten dazu auf, diese sechs Aufseher von mir fernzuhalten. Daraufhin begleiteten mich tatsächlich nur noch vier aus derselben Gruppe zurück in die Zelle. Unmittelbar nach dem Treffen, in einem kleinen und kamerafreien Gang zwischen den Anwaltskabinen und dem Hauptkorridor wurde ich in die Ecke gedrängt, wo mir einer gegen die Schulter boxte.

(…)

Abgesehen von der körperlichen Gewalt passierten alle übrigen Misshandlungen vor den Kameras und vor aller Augen. Dass Gefängnisdirektor Ali Demirtaş und das übrige leitende Personal über diese Vorgänge nicht informiert waren, ist daher vollkommen ausgeschlossen. Aber hatte der Gefängnisdirektor diese Behandlung angeordnet? Ich vermute, nicht. Denn in einer Situation, in der zehntausende Staatsdiener per Notstandsdekret entlassen und vormalige Gouverneure, Polizeipräsidenten oder hochrangige Richter verhaftet wurden und die gesamte Beamtenschaft sich ängstlich fragte „Komme ich als Nächster an die Reihe?“, halte ich es für unvorstellbar, dass ein Gefängnisdirektor es wagen würde, in einem Fall, mit dem sich der Staatspräsident persönlich befasst, derart eigenmächtig zu handeln. Meines Erachtens hätte niemand außer dem Staatspräsidenten selbst (oder dessen engster Umgebung) gewagt, die Initiative zu einer solchen Sonderbehandlung zu ergreifen.

Was aber konnte der Zweck sein? Konnte man es sich nicht denken, dass wir diese Vorgänge öffentlich machen? Auch das erscheint mir kaum vorstellbar. Sehr viel wahrscheinlicher scheint mir, dass genau dies gewollt war. Der Zweck war womöglich, die Krise mit Deutschland weiter zu verschärfen und die zu erwartenden Reaktionen aus Deutschland in der Referendumskampagne auszuschlachten.

„Lasst ihn nur. Ich werde ihn dorthin bringen, wo es keine Kameras gibt“

(…)

Anstatt, wie von der Gegenseite mutmaßlich gewollt, die Sache an die Öffentlichkeit zu tragen, beschlossen wir, zunächst nach politisch-diplomatischen Lösungen zu suchen. Wir schalteten sowohl hochrangige Vertreter der Bundesregierung als auch einen inländischen Politiker als Vermittler ein. Bereits am folgenden Tag waren diese sechs Aufseher verschwunden und alles kehrte zur Normalität zurück. Zwei Tage darauf brach die türkische Familienministerin zu ihrer Abenteuerreise nach Rotterdam auf. Und den großen Konflikt, den man womöglich über mich mit Deutschland vom Zaun brechen wollte, brach man eben nun mit den Niederlanden vom Zaun.

(…)

Ohnehin hatten wir bereits damals Strafanzeige erstattet. Die Staatsanwaltschaft Silivri begann Ermittlungen, stellte diese jedoch ein, ohne mich angehört zu haben. Daraufhin legten wir Widerspruch ein, über den am 16. Februar 2018, als ich aus der Haft entlassen wurde, noch nicht entschieden worden war. In meiner Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte habe ich von der Folter berichtet. Mit Rücksicht auf das laufende Verfahren habe ich in den Texten und schriftlichen Interviews aus der Haft dieses Thema niemals angesprochen. Auch als nach meiner Freilassung das Gericht Silivri unseren Widerspruch gegen die Verfahrenseinstellung abgelehnt hatte, zog ich es vor, über dieses Thema nicht zu sprechen. Denn der richtige Ort hierfür war die Gerichtsverhandlung. Der richtige Ort war hier.

Darum sage ich es an dieser Stelle zum ersten Mal öffentlich: Ich wurde im Gefängnis Silivri Nr. 9 drei Tage lang gefoltert. Womöglich auf direkte Veranlassung des türkischen Staatspräsidenten oder dessen engster Umgebung, auf jeden Fall aber infolge der Hetzkampagne, die er begonnen hatte, und unter seiner Verantwortung. So oder so, der Hauptverantwortliche für die Folter, der ich ausgesetzt war, heißt Recep Tayyip Erdoğan.