Nanni Balestrini, ein Nachruf: Der Literat der Autonomia

Zum Tod des großen italienischen Schriftstellers, Gentlemans und politischen Avantgardisten Nanni Balestrini.

Schriftsteller Nanni Balestrini

Setzte in den 1960er Jahren auf den militanten Klassenkampf: Nanni Belastrini (Archivbild von 2010) Foto: imago/Leemage

Der Autor Nanni Balestrini war ein eleganter, höflicher und gebildeter Mensch, aber auch einer mit Haltung und Grundsätzen. Und zu diesen zählte, dass er die Schönheit und Radikalität des Individuums respektierte, sich aber dennoch für kollektive Vorgänge und Klassenlagen interessierte. In Italien gehörte er in den 1960er Jahren zur Gruppe der literarischen Neoavantgarde, zu der damals auch ein Umberto Eco zählte. Balestrini arbeitete bis 1972 als Redakteur für den Verlag Giangiacomo Feltrinellis. Dem Tod des mit Che Guevara befreundeten reichen Unternehmers widmete er später sein Buch „Der Verleger“.

1935 in Mailand geboren, scheint Balestrinis Biografie beispielhaft für die Nachkriegs­avantgarden Italiens. Das Land war nach 1945 ein Hauptschauplatz im Kalten Krieg. Der faschistische Polizei- und Verwaltungsapparat konnte so die frisch etablierte italienische Demokratie dominieren, die ehemals starke kommunistische Widerstands- und Partisanenbewegung stand im Abseits.

Nanni Balestrini gehörte zu den intellektuellen Köpfen des sich formierenden Protests der 1960er Jahre. Mit Antonio ­Negri war er 1969 an der Gründung der Gruppe „Potere operaio“ (dt.: „Arbeitermacht“) beteiligt. Ähnlich wie viele andere aus der radikalisierten 68er-Bewegung in Westeuropa saß er dem Glauben auf, die militante Klassenkampfbewegung in den Fabriken könne eine bessere Gesellschaft ermöglichen. Sein dokumentarischer Roman „Wir wollen alles“ (Trikont, 1972) gilt als Manifest und Dokument dieser Zeit, als „Potere operaio“ bei Fiat in Turin (wie auch der „Revolutionäre Kampf“ um Joschka Fischer bei Opel in Rüsselsheim) die Arbeiter an den Fließbändern mobilisieren wollte.

Aber diese wollten mehrheitlich keinen Regime Change und lieber weiter Autos bauen, auch wenn ein Wechsel für die Klimaentwicklung schon damals wesentlich besser gewesen wäre. Staatliche Repression auf der einen, Zugeständnisse und Angebote auf der anderen Seite taten ihr Übriges, um die Fabrikkämpfe allmählich zu befrieden. Die Transformation der alten in eine neue Arbeiterbewegung scheiterte.

In „Die Unsichtbaren“, seinem vielleicht wichtigsten Werk, erzählt Balestrini dann vom Aufbruch der Autonomia in den 1970ern, der Verlagerung der Kämpfe in den gesellschaftlichen Bereich. Doch auch hier führte die Eskalation zu einer fast schon katastrophisch anmutenden Niederlage. Nach der Auflösung von „Potere operaio“ 1972 hatte die Ablehnung kapitalistischer Fabrik- und Lohnarbeit sowie die Entwicklung neuer, „antiautoritärer“ Lebensformen (etwa über Hausbesetzungen) im Vordergrund gestanden.

„Die Unsichtbaren“

In manchen Quartieren weigerten sich die Bewohner*innen kollektiv, noch Mieten oder Strom zu bezahlen. Die Autonomia wollte durch die große Verweigerung dem kapitalistischen Regime die Fähigkeit zur Reproduktion entziehen. Klassenübergreifend sollten glücklichere Formen des Zusammenlebens entstehen. „Die Unsichtbaren“ beschreibt in packender doku-fiktionaler Prosa diesen Prozess – und wie die Hoffnungen einer ganzen Generation schließlich auf der Strecke ­blieben.

Denn so stark wie die Autonomia auch damals schien, die Eskalationsstrategie gegen den Staat entglitt völlig und ließ die Bewegung gegen die Wand laufen. Tausende wurden inhaftiert, viele flohen vor teils abs­tru­sen Anschuldigungen ins Exil. Darunter auch so prominente Intellektuelle wie Nanni Balestrini und Antonio Negri. Beschuldigt von der italienischen Justiz, der Guerilla anzugehören, setzten sie sich 1979 nach Frankreich ab, Balestrini lebte zeitweise auch in der Bundesrepublik.

Nanni Balestrini, der sich auch als Lyriker und bildender Künstler verstand, schuf weiterhin große doku-fiktionale Prosawerke. Sein Interesse für extreme Lagen am Rande der Gesellschaft war ungebrochen, zumal sich die Extreme vom Rande häufig mitten im Zentrum wiederfanden.

Die Hooligans vom AC Milan

1995 veröffentlichte der ID Verlag die deutsche Fassung seines Romans „I Furiosi“. Hier erzählt Balestrini in „poetischer Prosa“ (La Repubblica) von den Exzessen der rot-schwarzen Brigaden des AC Milan. Sebastian Nübling brachte in einer aufsehenerregenden Inszenierung das „Hooligan-Drama“ 2001 im Staats­thea­ter Stuttgart auf die Bühne.

In seiner generösen Art, als Autor bescheiden hinter seine Protagonisten zurücktretend, verfasste er auch „Sandokan. Eine Camorra-Geschichte“ (Assoziation A, 2006). Es ist die vielleicht knappste und zugleich umfassendste, in jedem Fall vergnüglichste Darstellung zur Funktionsweise eines Camorra-Clans in Kampanien.

Wie verschiedene italienische Medien nun berichten, verstarb Nanni Balestrini 83-jährig nach kurzer Krankheit gestern, am 20. Mai, im Krankenhaus San Giovanni Addolorata in Rom.

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