Stilles Manifest gegen das Schweigen

Wenn die Generationen schuldhaft aneinandergekettet bleiben: Bettina Erasmys Theaterstück „Brand. Eine deutsche Familiengeschichte“ in Bremerhaven

Erdrückende Vergangenheit: Zum wohligen Zuhause lassen sich die Fertighaus-Bauelemente auf der Bühne nie zusammensetzen Fotos: Heiko Sandelmann

Von Jens Fischer

Deutschland ist abgebrannt. Der Holocaust wird der Verdrängung übereignet. Das Wirtschaftswunder rollt an. Und auf der Bühne des Stadttheaters Bremerhaven herrscht Erstarrung. Wie verirrt steht das Ensemble herum, guckt in den Himmel oder aneinander vorbei, alle murmeln vor sich hin. Sie laden aber auch zu einer rituellen Geste des Trostes ein, indem sie den Kopf eines Gegenübers an ihre Brust drücken.

Bettina Erasmys „Brand. Eine deutsche Familiengeschichte“ steht auf dem Spielplan. Puppenhaft an die Rampe platziert Regisseur Tobias Rott das gerade zusammenfindende Pro­tagonistenpaar Greta und Fritz. Steif vor Verunsicherung, Arme angelegt wie zum militärischen Appell, halten sie körperlich Abstand voneinander. Sie drucksen aber ihre Lebensentwürfe hervor – als Versuch einer zumindest verbalen Annäherung.

Greta (Sascha Maria Icks) will einfach nur weg, redet von Freiheit, die sie in Amerika vermutet, beruflich selbstständig will sie werden und sich als Modedesignerin emanzipieren von der ihr anerzogenen Frauenrolle. Fritz (Frank Auerbach) windet sich zappelig in seine Befreiungsidee von der übermächtig präsenten Weltkriegsvergangenheit: Er will Geld verdienen als Immobilieninvestor, die verwundeten Städte mit Bauprojekten heilen und den Menschen neue Wohnträume verkaufen. Zwei Hoffnungen, in der bleiernen Zeit zu sich selbst zu finden.

Leise Komik des Befremdens

Aber Greta und Fritz packen es nicht gemeinsam an. Nur in kurzen inneren Monologen ihrer Sehnsüchte kommen sie zusammen, die als ineinandergeschraubtes Duett dargeboten werden. Ein Funken Zuneigung aber wird niemals gezündet, Empathielosigkeit regiert. Da aber gerade niemand anderes anwesend ist und Paarbildung als gesellschaftliches Muss gilt, sinkt Fritz auf die Knie und wagt einen Heiratsantrag. Greta verrutschen die Gesichtszüge zur angeekelten Grimasse – aber sie nimmt an. Erst beim Stichwort Geschlechtsverkehr zucken ihre Mundwinkel mal ein Lächeln ins Gesicht. Die Familie Schüller ist gegründet. Liebe bleibt ein Wort ohne Bedeutung.

Auch wenn Eltern und Kinder des Paares die Bühne bevölkern, zieht der Regisseur seinen Regiestil stringent durch. Alle sitzen ratlos plappernd aufgereiht oder stehen isoliert herum und verstehen nicht, wie die anderen ticken. Ab und an hebt Musik an und animiert die Körper zu kurzen gestischen Entklemmungen, aber schnell geht es zurück in den Schlummermodus des gleichgültigen Nebeneinanderhers.

Ein freud-, ja trostloses Szenario, so genau beobachtet wie inszeniert und mit leiser Komik des Befremdens dargeboten. Wenn Greta in den 1960er-Jahre-Szenen schließlich gefragt wird, warum sie nicht glücklich sei, hält sie gerade einen Gummibaum als Schmuck und Symbol ihrer einsamen Zweisamkeit im Arm – blickt das Gewächs an und haucht resigniert: „Das wird nichts.“ Wenn ihr Sohn gefragt wird: „Bist du glücklich?“, antwortet er: „Ich bin erwachsen.“

Ebenso verzweifelnd kommt die lyrische Stimme der zerstörten Stadt daher, zu der sich das Ensemble als Chor vereint. Prima passen zur Stimmungslage die wenigen Fertighaus-Bauelemente auf der Bühne, die zu keinem wohligen Zuhause zusammenzusetzen sind. Weiter trägt zur Unbehaustheit der Figuren der wie ins Leere hallende Schall ihrer Sprechakte bei. Erstmals erscheint es sinnvoll, dass nur ein Viertel der 685 Plätze des Theaters besetzt sind wie bei meinem Besuch – denn so ist auch im Parkett die Verlorenheit zu spüren.

Erasmys Psychogramm der fünf Jahrzehnte westdeutscher Nachkriegszeit wird betulich entwickelt. Etwas bieder in der Erzählweise und auch klischeehaft in den Dialogen. Aber deutlich in der Behauptung, dass sich gesellschaftliche Realitäten noch so rasant verändern mögen, die Kriegs-, Kriegskinder- und Kriegsenkelgenrationen bleiben unverändert schuldhaft aneinandergekettet.

Oma (Max Roenneberg) macht deutlich, dass mütterliche Wärme nicht in ihr Verhaltensrepertoire gehört, sehr wohl aber der eine und andere rassistische Ausfall. Fritz feiert sein Geldanhäufen, Menschen interessieren ihn nicht so. Greta wirkt traurig verhärmt nach ihren pflichtschuldigst absolvierten Hausfrauenjahren. Elterliche Wärme war nicht ihr Ding.

Egal, denken beide, die Sprösslinge sind doch ohne materielle Sorgen in einer Wohlstandsdemokratie aufgewachsen. Aber ihr Erbe besteht nicht allein aus Häusern und deutschen Märkern. Als politisches Vermächtnis und persönliche Familiengeschichte gehört ebenso der nicht selbst erlebte Krieg dazu. Also rebellieren die Kinder Michael (Henning Bäcker) und Paulina (Elif Esmen) in 68er-Manier gegen Geschichtsvergessenheit, Leistungsdenken und Ökonomisierung aller Lebensbereiche.

Ebenso beispielhaft entwickelt sich der Sohn später zum Apologeten des Neoliberalismus und scheitert in einer Karrieristenehe. Derweil leidet die Tochter an einer Essstörung und wechselt Liebhaber wie Jobs im Wochentakt, scheint unfähig, irgendwo Wurzeln zu schlagen. Die Geschwister wirken bis zum Ende des Stücks so haltlos, wie es ihre Eltern schon zu Beginn waren. Was lief da schief?

Aufgrund der Gefühlskälte daheim, so steht es im Text, verweigerte die Tochter die Brust der Mutter und umarmte später lieber Bäume als die Eltern. Diese haben wie ihre Eltern viel Gegenwart abgearbeitet, aber nie die Vergangenheit aufgearbeitet. Aus Scham, Schuld, Angst. Diese Art Verstummen fassen Psychologen heute unter dem Begriff posttraumatische Belastungsstörung zusammen. Genau daran leiden die Schüllers. Über alles Mögliche quatschen sie, aber nie über Vertreibung, Luftbombardements, Massenmorde oder Vergewaltigung.

Wird zum Symbol der einsamen Zweisamkeit: Ein Gummibaum

Lieber Bäume im Arm

Erst kurz vor seinem Krebstod gibt Vater Fritz einen kurzen Einblick in die Kindheitserinnerungen eines 1935 Geborenen. Die eigne Tochter durch Hungerjahre zu bringen, davon erzählt die Großmutter zu spät, nämlich aus dem Jenseits. Das Theater macht es möglich. Zuvor wird dort die wortlose, aber nicht bewusste Weitergabe des Belastenden behauptet. „Irgendwie ist eine dunkle kalte Stille um mich herum“, sagt Michael.

So beantworten Erasmy/Rott die Frage, ob Deutsche als Täter des Genozids sich auch als Opfer definieren dürfen, mit einem eindeutigen Ja. Die Debatte ist ja nicht neu. Seit Ende der 1990er-Jahre wächst die Literatur, die etwa den alliierten Luftkrieg ohne politische Einordnung nur als Horror für die Zivilbevölkerung darstellt, in rechtsextremen Kreisen grassiert die Formulierung vom „Bomben-Holocaust“.

Genau diese nicht aufgearbeiteten Erlebnisse und Prägungen in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit wären vererbt worden, behaupten Epigenetiker. Hohe Scheidungsrate, Kinderlosigkeit, mangelndes Selbstwertgefühl, Depressionen, Bulimie und Bindungsprobleme treten in der Nachkriegsgeneration auf, analysiert das Theaterstück. Lässt aber offen, ob das nun mit der DNA oder psychologisch zu erklären ist – als Folge der reaktionären Ansichten, des erratischen Verhaltens und Desinteresses der Eltern. Deren Lebenshaltung aber scheint beeinflusst von der fehlenden Trauer über die erlittenen Kriegsschrecken, auch weil diese tabuisiert war angesichts der deutschen Verbrechen.

Angenehm unideologisch reißt die episch gedehnte Aufführung dieses Problemfeld auf. Den Schmerz der Figuren machen die Darsteller, soziale Vereinzelung wird in der formstrengen Inszenierung deutlich. Ein stilles Manifest gegen das Schweigen.

Nächste Aufführungen: Do, 30. 5., 2. 6., 7. 6, 15. 6, Stadttheater Bremerhaven