Ausgehen und rumstehen von Robert Mießner
: In Polen, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg

Sitzengeblieben und gelesen: In Marek Hłaskos Erzählung „Wir fliegen in den Himmel“ macht sich eine Gruppe Kraftfahrer auf den Weg ins Wochenende, und mit wenigen Sätzen deutet Hłasko an, das wird nicht gutgehen: „Sie bogen von der Straße ab und gingen über die Wiese. Es war ja eigentlich keine Rasenfläche, sondern Ödland, das sich hinter dem Depotgelände ausbreitete, voll von zerschlagenen Flaschen, Konservenbüchsen, Zigarettenschachteln und anderem Müll.“

Der Ort ist wahrscheinlich Warschau und seine Vororte, die Zeit Polen im Jahr 1955. Der Zweite Weltkrieg ist grade einmal zehn Jahre her und in den Köpfen der Überfallenen noch lange nicht vorbei. Hłaskos Helden, unter ihnen echte Heldinnen, hangeln sich durch das Leben der Davongekommen, ein Leben, das nun ein neues werden soll. Sie stürzen dabei, und nicht alle stehen wieder auf. Hłaskos Realismus ist ihm nicht gut bekommen. Schade, dass man selten davon liest, wie er gelesen wird.

Sitzengeblieben und gehört: „Astigmatic“ vom Krzysztof Komeda Quintet, ein 1965 entstandenes Album, das als eines der Legenden des polnischen Jazz gilt. Völlig zu Recht, die drei Tracks, das Titelstück nimmt die komplette A-Seite ein, kommen leicht schräggelehnt daher, bleiben dabei aber lyrisch. Krystof Komeda, den Jazzpianisten und -komponisten, von Beruf Hals-, Nasen- und Ohren-Arzt, und Marek Hłasko, den Schriftsteller und Gelegenheitsarbeiter, verband eine schicksalhafte Freundschaft: Komeda hatte Hłasko Mitte der Sechziger mit nach Los Angeles geholt.

1968, am Ende des Jahres, als er die Filmmusik zu Rosemaries Baby“, dem Horrorklassiker seines Landsmannes Roman Polanski, komponiert hatte, kam es im Laufe eines Gelages zur Katastrophe: Es heißt, der kräftige Hłasko habe den schmächtigen Komeda hochleben lassen und ihn dabei auf den Armen getragen. Dabei soll er ausgerutscht sein und Komeda wäre mit dem Kopf auf eine Tischkante aufgeschlagen. Vier Monate später starb Komeda an den Folgen des Sturzes; Hłasko, der gesagt haben soll, „wenn Krysztof geht, gehe ich hinterher“, starb im Juni 1969 in Wiesbaden, von eigener Hand, wie vermutet wird.

Noch bis zum 11. Juni ist im Polnischen Institut in Berlin-Mitte eine Ausstellung zu Krzysz­tof Komeda zu sehen: „Meine süße europäische Heimat“ heißt sie, nach einem anderen legendären Album Komedas mit Jazz und Lyrik aus Polen. Auch das sollte gehört werden. Vielleicht nächsten Wahlsonntag?

„Sally“, das letzte Stück, ist ein steiles, sechsminütiges Orgelbrett

Dann doch noch rausgegangen: Am sehr späten Sonnabend, die Geisterstunde schon in Sicht, stieg in der 8 MM Bar in Prenzlauer Berg die semioffizielle Releaseparty zur Wiederveröffentlichung eines Kassettenalbums aus dem Ostberliner Underground der Achtziger, dem „Rotmaul“-Tape von Ornament & Verbrechen. 20 bis 30 Leute hatten damals von der Freiform-Band um die Brüder Ronald und Robert Lippok ein Tape erhalten, jetzt können mehr zuhören.

„Rotmaul“ eröffnet auf dem Label Play Loud! die Reihe „Tape­topia“ mit weiteren klandestinen Kassettenalben aus dem letzten Jahrzehnt der DDR, jetzt auf Vinyl, kuratiert von Henryk Gericke. Und, was soll ich sagen? Die Ornament-&-Verbrechen-Platte machte sich mit ihrem verkanteten Experimentalwave wunderbar in der 8 MM Bar zwischen dem Spacepunk von Chrome und dem Freak Funk der Bush Tetras. „Sally“, das letzte Stück der Platte, ist ein steiles, sechsminütiges Orgelbrett, das ich gerade zum zweiten Mal hintereinander höre. Leider muss ich jetzt vor die Tür.