Gezeichneter Journalismus

Eine Ausstellung in Berlin zeigt, dass auch in Comics gesellschaftskritische und politische Inhalte journalistisch dargestellt werden können

Für ihr Buch „Im Schatten des Krieges“ begleitete die Zeichnerin Sarah Glidden Journalisten durch die Türkei, Syrien und den Irak Foto: Abbildung: Sarah Glidden

Von Ralph Trommer

Comicreporter? Da mag man zuallererst an „Tim, den pfiffigen Reporter“ denken, den der belgische Comiczeichner Hergé 1929 erfand und in zahllose Länder schickte. Mit heutigen Comicreportern haben Tim und Struppis Abenteuer jedoch wenig zu tun. Denn die Zeichner sind heute selbst die Reporter. Wie der Print-, Radio- oder Fernsehjournalismus basiert auch das hierzulande noch weitgehend unbekannte Format der „Comicreportage“ nicht auf fiktionalen Inhalten. Es erhebt den Anspruch, die Realität widerzuspiegeln, und das in vielerlei Form – ob Interview, Reisereportage, Analyse oder Kommentar. Diese Facetten zeigt die von Nathalie Frank und Lilian Pithan kuratierte Ausstellung „Zeich(n)en der Zeit“ im Museum für Kommunikation Berlin.

Als einer der Ersten entdeckte der Journalist Joe Sacco den Comic als geeignete Form, um seinen Beruf mit seinem Zeichentalent zusammenzubringen. In den 90er-Jahren begann er, aufwendig gezeichnete Reportagen über Krisenherde zu zeichnen. Er beeinflusste zahlreiche Künstler, die im Reportage-Genre eine willkommene Abkehr vom Unterhaltungscharakter sahen, mit dem Comics im Allgemeinen verbunden wurden. Stattdessen eröffnete sich die Möglichkeit, mit Hilfe von „ernsthaften“ Bildsequenzen auf anschauliche Weise gesellschaftskritische oder politische Inhalte zu vermitteln.

Der Prozess des Zeichnens macht eine Comicreportage schon zu etwas Persönlichem: Jede(r) wählt einen anderen Blickwinkel. Sacco unterstreicht die Subjektivität seiner Berichte noch dadurch, indem er sich selbst als Erzähler zeichnet. Die österreichische Zeichnerin Ulli Lust wurde von Saccos Comics zu eigenen, kürzeren Reportagen inspiriert. Sie zeichnet meist mit Bleistift und macht pointiert alltägliche, urbane Beobachtungen. Neben Lust hängen die farbigen, mit dicken Marker-Strichen gezeichneten, plakativeren Arbeiten Victoria Lomaskos. Sie prangert die Missstände im heutigen Russland an und interviewt Bürger, die Erfahrungen mit dem „System“ gemacht haben: Insassen von Jugendstraflagern, Sexarbeiterinnen, Ultra-Nationalisten.

Meist arbeiten Comicjournalisten unabhängig und selbstausbeuterisch

Meist arbeiten Comicjournalisten wie sie unabhängig und selbstausbeuterisch. Doch ergaben sich in den letzten Jahren neue Möglichkeiten: Online­magazine wie The Nib veröffentlichen ausschließlich Comicjournalismus. Und die französische Revue Dessinée ist das erste Printmagazin dieses Genres – 2013 gegründet, mit mittlerweile beachtlicher Auflage von 20.000 Exemplaren. Die Ausgaben beeindrucken durch ihre Form- und Themenvielfalt. Für die Revue arbeiten meist Journalisten mit Zeichnern zusammen. Auch ein Projekt des Berliner Comicvereins, „Alphabet des Ankommens“, ist Teil der Ausstellung: zwei Comicreportagen zum Thema Migration sind zu sehen, die aus unterschiedlichen Perspektiven die aktuelle Situation von Geflüchteten aufgreifen. Der Berliner Zeichner Bo Soremsky wiederum hat zusammen mit Arte-Journalisten eine Reportage über die harten Zustände von Arbeitern in Madagaskars Saphirminen gedreht, und dort Comicsequenzen verwendet, wo die Fotografie nicht erwünscht ist.

Im Gegensatz zu Foto oder Film kommt ein Zeichner den porträtierten Menschen nicht zu nahe, ihre Privatsphäre wird gewahrt: „Zeichnungen können helfen, eine Beziehung aufzubauen“, sagt Sarah Glidden. Von der bekannten US-Zeichnerin sind Auszüge aus ihrem Buch „Im Schatten des Krieges“ von 2016 zu sehen, für das sie Journalisten durch die Türkei, Syrien und den Irak begleitete. Anhand ihrer Einblicke in die Region wollte sie ihren Landsleuten die Auswirkungen des Irakkrieges auf die dortige Bevölkerung bewusst machen. „Der Comicreportage gehört die Zukunft“, ist sich Kuratorin Lilian Pithan sicher. „Sie ist eine Art ‚Slow Journalism‘, da es viel Zeit und Sorgfalt bedarf, um sie zu realisieren. Gerade heute in Zeiten der Zeitungskrise sind nachhaltige Recherchen und behutsame Herangehensweisen gefragt.“

Die Ausstellung ist bis zum 25.­ 8. im Museum für Kommunikation Berlin zu sehen