Tiere in Europa: Schafe haben Meinungen

Im Vergleich zur Literatur über Katzen, ist die über Schafe nicht besonders üppig. Dabei ist es das vermutlich europäischste aller Tiere.

Das Maul eines Schafs

Schafforscherin Thelma Rowell sagt: „Schafe haben Meinungen“ Foto: dpa

Alle reden vom Wolf, wir von Schafen. Dabei ergab sich ein Problem: Ich kam ihrer Subjektivität nicht nahe. Die Literatur über Schafe steckt quasi noch im Lämmerstadium, insofern sie meist nur von Vernutzung, Krankheiten, Herden-Management, Wollpreisen und Schäferinnen handelt.

Des ungeachtet veröffentlichte ich trotzdem ein kleines Buch über Schafe. Später erfuhr ich in der Biografie der berühmten amerikanischen Rinderexpertin Templin Grandin, dass sie das selbe Problem hatte: In den Instituten, die sich mit Nutztieren befassen, wird keine Verhaltensforschung betrieben.

Rinder und Schafe sind Dinge im Privatbesitz, deren Aufzucht, Versorgung, Vermehrung und Haltung optimiert werden muss. Daneben gibt es eine ausufernde Literatur darüber, was das Quälen und Foltern von Schafen alles an wissenschaftlichem Fortschritt erbracht hat. Aber noch scheußlicher ist, dass mit der Schafzucht und ihrer Ausbreitung etwas schwer Metaphysisches über die Welt gekommen ist – eine Hirtenideologie: der Monotheismus (Judentum, Christentum und Islam).

Mit der Domestizierung der Schafe entwickelte sich der Hirtenstand. Und bald wurden auch alle Herrscher als Hirten begriffen, sie behüteten die Menschen als Herde wie auch als Individuen. Der Wissenshistoriker Michel Foucault geht in seiner „Geschichte der Gouvernementalität“ davon aus, dass die Idee einer „pastoralen Macht“ (sei es Häuptling, König oder Gott) in Ägypten, Assyrien und Babylon entstand. Bei den Hebräern wurde dann das „Pastorat ein grundlegender Verhältnistypus zwischen Gott und dem Menschen“, meint Foucault.

Es ging dabei, anders als heute, da man in Israel die Heilige Schrift gerne als Grundbuch liest, nicht um das Besetzen eines Territoriums: „Die Macht des Hirten wird per definitionem auf eine Herde ausgeübt.“ Dem griechischen Denken ist die Idee fremd, dass die Götter die Menschen wie ein Pastor, wie ein Hirte seine Schafherde führen. Sie haben „territoriale Götter“.

Die orientalische Hirtenmacht wird dagegen laut Foucault auf „eine Herde in ihrer Fortbewegung, in der Bewegung“ ausgeübt. Das „Heil der Herde ist für die pastorale Macht das wesentliche Ziel“.

Als Hirte von Gott auserwählt

Moses, Abraham, Isaak und Jakob waren Schafhirten. Moses wurde als Hirte seines Volkes von Gott auserwählt, weil er seine Schafe in Ägypten so umsichtig gehütet hatte. In der „hebräischen Thematik der Herde“ schuldet der Hirte laut Foucault seinen Schafen alles, „derart, dass er hinnimmt, sich selbst für das Heil der Herde zu opfern“.

Dass er seine Herde gegebenenfalls im Stich lässt, um ein Schaf zu retten, das sich verirrt hat, nennt Foucault „das Paradox des Hirten“, der das Eine für das Ganze opfert und das Ganze notfalls für das Eine: „Etwas, das im Mittelpunkt der christlichen Problematik des Pastorats steht.“ Dabei habe der „abendländische Mensch“ in Jahrtausenden gelernt, „was zweifellos kein Grieche je zuzugestehen bereit gewesen wäre, sich als Schaf unter Schafen zu betrachten“.

Im Jahr 2007 wurden weltweit über 8 Millionen Tonnen Schaffleisch produziert. Wenn man die exportierten Schafe der Europäer in Amerika, Australien und Neuseeland mitzählt, liegt Europa mit 2.665.000 Tonnen Schaffleisch vor China an erster Stelle. Australien schlägt mit 465.000 Tonnen China bei der Schafwollproduktion, das wiederum mit 2.017.000 Tonnen am meisten Schafmilch produziert.

Als Wiederkäuer gehören Schafe zu den wichtigsten Quellen für Treibhausgase. Um den Methanausstoß zu verringern, werden sie in Australien geimpft.

Die Schafe von 270 Schäfereien beweiden die Deiche an der deutschen Nordseeküste (4.700 Quadratkilometer). Wenn der Sturm sie umwirft, kommen sie mit ihrem duchnässten Fell am Hang nicht mehr alleine auf die Beine. „Deichschafaufsteller“ ist ein 450-Eurojob. Wegen ihres Fells können Schafe ebenso schlecht schwimmen wie männliche Löwen.

Von den EU-Bürgern sind 66,1 Prozent Christen, 0,2 Prozent Juden und 3,0 Prozent Muslime.

Der Dichter Hans Magnus Enzensberger hat dagegen 1957, als das Hirtentum nach dem verlorenen Krieg hierzulande noch darniederlag, aufbegehrt mit einer „Verteidigung der Wölfe gegen die Lämmer“.

Die amerikanische Schafforscherin Thelma Rowell und die in der Lüneburger Heide lebende Tierrechtlerin Hilal Sezgin sind fast die einzigen, die primär am Verhalten der Schafe in ihren Herden interessiert sind. Erstere weiß inzwischen zu berichten: „Schafe haben Meinungen.“

Und letztere erzählte folgende Geschichte: Zuerst bekam sie drei Zwergziegen. Als sie diese zu ihren Schafen auf die Weide ließ, es war Winter, schliefen sie die erste Nacht vor dem Stalltor, die zweite auf der Torschwelle und die dritte im warmen Stall bei der Herde. Dann bekam die Autorin zwei Heidschnucken: Tristan und Isolde.

Als sie auf die Weide kamen, „nahmen sie die Schafherde gar nicht zur Kenntnis“, wegen der Distanz zu ihnen musste sie die beiden extra füttern – draußen. Die Schafe hatten im Stall ihre Raufe; wenn sie gefüttert wurden, kam Isolde aber nach einiger Zeit ans Tor und guckte, wann denn sie und Tristan dran waren. Sie waren noch nicht Teil der Herde und schliefen draußen unterm Vordach.

Da fing „eine der Zwergziegen an, Interesse an den beiden zu zeigen. Sie nahm eindeutig eine Zwischenposition ein“. Wenn die Heidschnucken tagsüber unter dem Vordach lagen, „legte sie sich ebenfalls dorthin, nicht direkt bei ihnen, aber nahe dran“. Als die Zwergziege sogar anfing, mit ihnen zu fressen, „eröffnete“ Hilal Sezgin einen „Extrahaufen Futter“ für sie. Vielleicht bekommen die da draußen was Besseres als wir im Stall, mögen einige Schafe drinnen gedacht haben.

Das sagt die Autorin aber nicht, sie stellte nur fest: „Auf einmal schlichen sich immer mehr Schafe von drinnen nach draußen, um mit den dreien dort zu fressen. Das ist gerade die große Mode – das Beste überhaupt, wenn man gar nicht mehr drinnen isst. Sondern man isst jetzt draußen.“

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