Mein Sprung in die Förde

Für die Leute im Grenzgebiet war die dänische Grenze bis vor Kurzem kaum spürbar. Man musst sich schon anstrengen, um sich ihrer Existenz zu vergewissern

Endlich auf der dänischen Seite Foto: Daniel Reinhardt/dpa

Von Till Wimmer

Als die Wildschweine noch frei zwischen Nord- und Südschleswig hin und her wanderten, habe auch ich Grenzen überquert. Das lag an meinem jugendlichen Leichtsinn und daran, dass die Gelegenheit da war. Ein Jahrzehnt ist es her, da sprang ich auf der Suche nach dem nächstbesten Kick in die Flensburger Förde und machte mich auf den kurzen Weg ans andere Ufer, in Richtung Dänemark.

Nicht, dass mir das Dänische in Flensburg gefehlt hätte. Zurecht wird die Stadt „Tor zu Dänemark“ genannt, spricht ein Teil der Flensburger Dänisch, sind ein Großteil der Tagesurlauber Dänen und kommen die meisten hierher, um nach Dänemark zu gelangen. Das hatte nun auch ich vor.

Während ich also gegen den Strom schwamm, fühlte sich der Rebell in mir befriedigt. Ich wurde nicht daran gehindert, kein*e Grenzbeamt*in mit Feldstecher beobachtete mich, und trotzdem war mir, als würde ich der Staatssouveränität, den politisch Mächtigen, ja, dem Nationalismus eins auswischen. Ich hatte die Grenze nie gespürt – musste sie mir einbilden, um mir beweisen zu können, dass sie überwunden werden kann.

Ich ging an Land, legte mich in die Sonne und horchte: Keine Sirene, kein Hubschrauber, kein Bellen von Hunden war zu hören. Ich hatte unbemerkt das Dänische Königreich betreten.

Wir, die in der dänischen Minderheit von Flensburg sozialisierten, waren Grenzgänger. Nicht Kartoffeldeutsch und nicht Smörrebröddänisch und doch irgendwie beides. Ihren Ursprung hat die dänische Minderheit im Jahre 1920, als der heutige Grenzverlauf per Volksabstimmung bestimmt wurde: Nordschleswig votierte für Dänemark, während sich Südschleswig in seiner Mehrheit für Deutschland entschied. Auf beiden Seiten verblieb eine Minderheit.

Als Kind deutscher Eltern wurde ich, wie viele meiner Schulkamerad*innen, aus eher pragmatischen Gründen in das dänische Schulsystem integriert. Völkisch indoktriniert wurden wir dennoch. Auf der Grundschule sangen wir jeden Morgen dänische Volkslieder. An Feier- und Geburtstagen hissten wir die dänische Flagge. All das Dinge, die ex negativo den deutschen Schulalltag beschreiben.

Grenzwertig waren vor allem die Rituale nach dem Abitur. Betrunken und mit wehender dänischer Nationalfahne in der Hand grölten wir stumpf Parolen, die uns als glücks- und alkoholberauschte Minderheit erkenntlich und als vernunftbegabte Wesen unkenntlich machten. In großen Gruppen enterten wir Boote, bestiegen Brunnen und warfen uns in den Flensburger Hafen. Zwölf Jahre Volkstum hatten ihre Spuren hinterlassen. Hinter der Grenze waren wir für die Jugendlichen trotzdem „Nazi-Tysker“, also Nazi-Deutsche.

Kein*e Grenzbeamt*in mit Feldstecher beobachtete mich, und trotzdem war mir, als würde ich der Staatssouveränität eins auswischen

Nur diesmal war ich allein. Von der Sonne getrocknet trat ich den Rückweg über Land an. Ich ging vorbei an einem verlassenen Checkpoint. Mit seinem Charme einer alten Bushaltestelle ließ er erahnen, wie das Prä-Schengen-Zeitalter ausgesehen haben musste.

Ich dankte der dänischen Königin für ihre unaufdringliche Gastfreundschaft und erreichte schon bald den nahegelegenen Grenzladen, einen ehemaligen Arbeitgeber von mir, der, selbst Däne, den Laden auf der deutschen Seite betreibt. Das Geschäftsmodell beruht auf einer ökonomischen Symbiose: Dänen profitieren von deutschen Preisen, die Deutschen von pfandfreien dänischen Dosen. Zwar dürfen diese nur von Dänen gekauft und nur nach Dänemark exportiert werden, tatsächlich aber ersetzt schon ein Smalltalk auf gebrochenem Dänisch den Identitätsnachweis.

Sowohl deutsche Vieltrinker als auch dänische Ladeninhaber profitieren davon und tragen so dazu bei, dass die berüchtigte Grenze in den Köpfen der Menschen ganz plötzlich verpufft. Ich kaufte eine Dose Tuborg und trank sie aus.