Von der
Vertreibung
zur Assimilation

2,5 Millionen Tscherkessen wurden vor über einem Jahrhundert vom Kaukasus nach Anatolien deportiert. Heute gehören die Tscherkessen zu den größten ethnischen Minderheiten in der Türkei. Ein Besuch im tscherkessischen Dorf İlkkurşun bei Izmir.

In den jüngeren Generationen spricht kaum noch jemand die tscherkessische Sprache Foto: Sakıp Yaşar

Von Sakıp Yaşar

Nach einer zweistündigen Fahrt durch Olivenhaine erreicht der Zug aus Izmir das tscherkessische Dorf İlkkurşun. Am 21. Mai 1864 waren die Tscherkessen durch das Russische Zarenreich vom Kaukasus vertrieben worden. 1879 gründete ein Teil von ihnen das Dorf İlkkurşun. Die Dorfbewohner*innen gehören zu den mehr als zwei Millionen Tscherkessen, die heute in der Türkei leben – und damit zu einer der größten ethnischen Minderheit des Landes.

Laut dem türkischen Staatsarchiv gehörten die Gründer von İlkkurşun dem nordkaukasischen Volksstamm der Schap­sughen aus der Region der heutigen autonomen Republik Adygeja an. Nachdem Russland 1864 den Besatzungskrieg in der Kaukasusregion gewonnen hatte, wurden die Tscherkessen zunächst nach Bulgarien und Rumänien zwangsumgesiedelt. Wenige Jahre später, während des Russisch-Osmanischen Krieges von 1877 bis 1878, wurden die Menschen ins Osmanische Reich deportiert. Das Dorf İlkkurşun, zu Deutsch: „Der erste Schuss“, gilt als einer der ersten Orte, an denen im türkischen Unabhängigkeitskrieg von 1919 bis 1923 der türkische Widerstand gegen das griechische Heer begann. Nach dem Krieg wurde das Dorf, das einst Hacı İlyas hieß, umbenannt in İlkkurşun.

Fast die Hälfte der Vertriebenen starb

Helle, einstöckige Häuser säumen die schmalen Gassen, jedes Haus hat seinen eigenen Garten. In Blumentöpfen, alten Teekesseln und Töpfen blühen Blumen. Kadriye Tekir füllt in ihrem Garten die Blumentöpfe mit neuer Erde und stellt sie entlang der frisch gestrichenen weißen Mauer auf. Das mache sie jedes Jahr so, erzählt die Frau um die 70 Jahre.

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Kadriye Tekir ist in der Türkei geboren und aufgewachsen, sie bezeichnet sich selbst als türkisch. Trotzdem werde sie manchmal traurig, wenn sie sich daran erinnert, wie die Alten früher von der Heimat erzählten, die sie nie kennengelernt hat. Sie summt eine Melodie, ein tscherkessisches Volkslied. „Diese Musik hat unsere Vorfahren begleitet, als sie ihre Heimat verlassen mussten“, erklärt sie. „Und es gibt immer noch Krieg, Menschen werden aus ihrer Heimat vertrieben. Gehen Sie mal nach Izmir und schauen Sie sich an, wie die Menschen im Stadtteil Basmane leben. Ist das nicht eine Schande?“

Seit dem Ausbruch des Krieges in Syrien 2011 beherbergt der Stadtteil Basmane in Izmir Geflüchtete, die meisten von ihnen stammen aus Syrien. Die mehr als drei Millionen Syrer*innen, die heute in der Türkei leben, haben sich ebenso in das große Kulturmosaik der Türkei eingefügt wie die mehr als zwei Millionen Tscherkessen, die durch Kriege zwangsumgesiedelt wurden. Angaben der türkischen Einwanderungsbehörde zeigen, dass sich die immer wieder unterbrochene Migration der Tscherkessen stark auf die demografische Zusammensetzung Anatoliens ausgewirkt hat. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden 2,5 Millionen Tscherkessen aus ihrer Heimat vertrieben. Etwa eine Million von ihnen starben auf der Flucht, etwa eine Million ließen sich in der heutigen Türkei nieder. Mit der Deportation der Tscherkessen aus ihrer Heimat am 21. Mai 1864 begann, was einige Historiker heute als Völkermord bezeichnen. Georgien erkannte den Genozid 2011 offiziell an. Am 21. Mai finden in der Türkei und anderen Ländern Gedenkveranstaltungen statt, bei denen Blumen ins Meer geworfen werden.

Auf dem Dorfplatz von İlkkurşun steht eine Atatürk-Büste, wie man sie in jedem Ort der Türkei antrifft. Darunter der dazugehörige Leitsatz: „Glücklich derjenige, der sich als Türke bezeichnet“. Im Dorfcafé gegenüber hängt neben der türkischen die tscherkessische Flagge. Eine Gruppe älterer Dorfbewohner hat sich hier versammelt und unterhält sich lebhaft auf Tscherkessisch. Der Dorfvorsteher Muammer Özer erklärt, es gehe um die Geflüchteten aus Syrien. „Alle, die vor dem Krieg fliehen mussten, sind uns willkommen“, sagt er.

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Der 68-jährige Mahmut Akın, der dabeisitzt, erinnert sich an die tragischen Geschichten, die ihm die Alten früher erzählt haben: „Fast die Hälfte der Tscherkessen, die versuchten mit Booten über das Schwarze Meer ins Osmanische Reich zu gelangen, kam dabei ums Leben. Rund eine Million Menschen sind gestorben.“

Andere Zeiten, ähnliche Geschichten

Heute ertrinken syrische Geflüchtete vor der türkischen Küste. Mahmut Akın ist der Ansicht, dass sich die Geschichten ähneln, auch wenn die Zeiten andere seien: „Auch früher nutzten die Menschenhändler die Notlage der Menschen aus. Gegen Bezahlung nahmen sie unsere Vorfahren auf ihren Schiffen mit, und um noch mehr Geld rauszuschlagen, warfen sie sie auf offenem Meer über Bord. So konnten sie schneller in den Hafen zurückkehren und noch mehr Menschen betrügen“, sagt der pensionierte Religionslehrer, der sich viel mit der tscherkessischen Kultur und der Geschichte seines Dorfes beschäftigt. „Seitdem können wir die Fische nicht mehr essen, denn sie haben unsere Vorfahren gefressen.“

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Der georgische Historiker Simon Canaşia schrieb in seinen Aufzeichnungen über einen 91-jährigen Mann, den er 1929, 65 Jahre nach der tscherkessischen Zwangsumsiedlung, während seiner Forschungsreise durch den Kaukasus getroffen habe. „Noch sieben Jahre danach fand man an den Meeresküsten immer wieder weggeworfene menschliche Knochen“, habe der Mann ihm von den Deportationen berichtet, „Krähen bauten aus Frauenhaar und den Barthaaren von Männern ihre Nester. Sieben Jahre lang spülte das Meer menschliche Schädelknochen an, als wären es Melonen.“

Heute sind diese Geschehnisse für die Tscherkessen Vergangenheit. Während die früheren Generationen an der Vertreibung aus ihrer Heimat und dem Tod ihrer Angehörigen litten, sorgt sich die heutige Generation darum, dass sie in der Türkei ihre Wurzeln verliert. „Wir sind mittlerweile Türken“, sagt Mahmut Akın. Die Assimilation setze sich seit dem Osmanischen Reich fort. „Man hat uns nie erlaubt, eigene Schulen zu gründen, und der muttersprachliche Unterricht wurde nicht bedingungslos zugelassen.“ Deshalb reißt die Verbindung der Menschen zur tscherkessischen Kultur langsam ab. Es gibt zwar mehr als 50 tscherkessische Organisationen in der Türkei. Doch Akın ist der Ansicht, ihre Aktivitäten reichten längst nicht aus. Noch vor wenigen Generationen sprach jeder in İlkkurşun die tscherkessische Sprache, heute könne sie unter den jungen Leuten im Dorf niemand mehr.

Übersetzung: Judith Braselmann-Aslantaş