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Die neue Sucht

Abhängigkeit ohne Drogen ist nun offiziell eine Krankheit: Die Weltgesundheitsorganisation hat „Computerspielsucht“ in ihren Krankheitskatalog aufgenommen. Ein niedersächsisches Projekt erforscht schon seit 2017, wie Medien abhängig machen

Der Avatar, ein idealisiertes Selbstbild? Junger Mann beim Spielen eines Computerspiels Foto: Peter Steffen/dpa

Von Jacqueline Hadasch

Exzessives Verhalten, Kontrollverlust, Abhängigkeit – aber es geht nicht um Drogen. Das Projekt „Re:set!“ der niedersächsischen Landesstelle für Suchtfragen bietet professionelle Beratung für Menschen, die auf andere Weise abhängig sind: Sie sind süchtig nach Medien; das können Computerspiele sein, aber auch die Nutzung sogenannter sozialer Netzwerke oder auch von Online-Videos. Das niedersächsische Projekt ist damit Ausdruck einer neuen Suchtdefinition: Lange lag der Fokus auf Substanzabhängigkeit, die natürlich auch weiterhin ein Thema ist. Aber Menschen leiden heute verstärkt auch an Suchtverhalten ohne Drogenkonsum, „stoffungebundene Sucht“ heißt das im Fachjargon.

Im Katalog der Anerkannten

Womit sich Re:set! schon seit dem Jahr 2017 beschäftigt, ist inzwischen offiziell als Krankheit anerkannt: Die Weltgesundheitsorganisation hat kürzlich Verhaltenssüchte in ihren Krankheitskatalog (ICD-11) aufgenommen. Zu dieser neuen Kategorie gehört auch die Computerspielsucht. Dass es sich dabei um ein „Erscheinungsbild mit weiterem Forschungsbedarf“ handele, erklärte 2013 bereits die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft (APA) in ihrem Katalog psychischer Störungen (DSM-5).

Die APA definierte neun Kriterien zur Identifikation gestörten Spielverhaltens im Internet, verwies jedoch auf fehlende wissenschaftliche Belege, um Computerspielsucht als offizielle Krankheit zu klassifizieren. Die WHO sieht diese nun, sechs Jahre später, als gegeben. Auch die suchtartige Nutzung von Social Media sei laut WHO ein ernsthaftes Problem – sei aber noch nicht genügend erforscht, um sie als eigene Krankheit zu kategorisieren.

Die fachliche Einschätzung ist das eine – öffentliche Aufmerksamkeit genießt das Thema Mediensucht schon jetzt. „Die Entstehung von Verhaltenssüchten geht auch mit der zunehmenden Digitalisierung einher“, sagt Hans-Joachim Heuer vom niedersächsischen Sozialministerium. Diesem gesellschaftlichen Wandel müsse die Politik gerecht werden – also auch Projekte wie „Re:set!“ aktiv fördern.

„Neue Medien stellen uns vor neue Aufgaben“, sagt Heuer, der im Ministerium die Abteilung Soziales, Pflege und Arbeitsschutz leitet. Obgleich wir im Umgang mit Medien nicht genügend geschult seien: Diese Medien und ihre Nutzung seien aus der heutigen Gesellschaft ja nicht mehr wegzudenken. Diesen Gedanken stützt eine gemeinsame Studie von ARD und ZDF: 2018 verbrachten demnach deutsche Nutzer unter 30 Jahren pro Tag durchschnittlich 353 Minuten – knappe sechs Stunden! – im Internet. Tendenz: steigend, und zwar jedes Jahr um 47 Minuten pro Tag.

Dass wir uns kaum von den Medien lösen können, liegt auch an deren Design: Oft verwenden Medienanbieter gezielte Suchtmechanismen, um ihre Nutzer an die App, das Spiel oder das soziale Netzwerk zu binden. Insofern sind Medien aus den gleichen Gründen wie „richtige“ Drogen suchtgefährdend: „Sie sind leicht verfügbar, können Menschen schnell herunterbringen und führen zu schneller Belohnung“, sagt Hans-Jürgen Rumpf von der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie. Belohnend wirken bei Online-Spielen beispielsweise die Fähigkeiten des Avatars, Trophäen, Waffen oder Sterne. In sozialen Medien seien es virtuelle Kontakte und soziale Bestätigung, erzählt Rumpf, Privatdozent der Universität Lübeck.

Dauernd online – dank Psychotricks

Die Parallelen von Medien- und Drogensucht zeigen sich nicht zuletzt darin, wie das Hirn auf beide reagiert. Bei beiden liegt der gleiche neurobiologische Mechanismus zugrunde: „Durch positive, belohnende Erfahrungen lernt unser Gehirn, seine Aufmerksamkeit stärker auf den auslösenden und belohnenden Reiz zu richten“, erklärt Rumpf. „Den Impuls, einer Versuchung immer wieder nachzugeben, schränkt der sogenannte Präfrontale Cortex aber ein. Er funktioniert also als Kontrollsystem, das für eine angemessene Verwendung von belohnenden Verhaltensweisen sorgt – normalerweise. Ist ein Mensch einer Sucht verfallen, hat diese den Steuerungsmechanismus ausgehebelt. Betroffene haben keine Kontrolle mehr.“

Die Online-Belohnung lässt uns also durch einen Kontrollverlust der Sucht verfallen. Was sich auf dem Weg dorthin in unserem Gehirn abspielt, weiß Tagrid Leménager vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim: Das Belohnungsempfinden von Nutzern sozialer Netzwerke sei sogar abbildbar, erzählt die auf klinisch abhängiges Verhalten und Suchtmedizin spezialisierte Forscherin. Ein Beispiel dafür sind Likes; Bilder oder andere Posts mit mehr „Gefällt mir“-Angaben erzeugen eine stärkere messbare Gehirnaktivität, sagt Leménager. Likes sind längst die Währung für Bestätigung und Selbstwert. So kompensiert Mediensucht meist Selbstkonzeptdefizite.

Die Definition und Diagnostik psychischer Krankheiten geschieht nach zwei Standards: Die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene „International Classification of Diseases“, kurz: ICD, und das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) der American Psychiatric Association (APA).

Der ICD, dessen elfte Version (ICD-11) jüngst beschlossen wurde, beschreibt eine Computerspielsucht anhand der folgenden Kriterien: verminderte Kontrolle übers Spielen, steigende Priorität im Alltag (etwa Vorrang gegenüber anderen Lebensinteressen oder alltäglichen Aktivitäten), Fortsetzung oder Eskalation des Spielens trotz negativer Konsequenzen.

Der DSM-5 aus dem Jahr 2013 definiert neun Kriterien zur Diagnose von Computerspielsucht:

übermäßige Beschäftigung, zum Beispiel gedankliche Vereinnahmung vom Spielen, Entzugs­symp­tomatik, Toleranzentwicklung, erfolglose Versuche, das Spielen zu kontrollieren, Interessenverlust an früheren Hobbys (als Ergebnis des Spielens), Fortführen exzessiven Spielens trotz negativer Folgen, Täuschen anderer bezüglich des Umfangs des Spielens, Nutzen von Spielen, um einer negativen Stimmungslagen zu entfliehen, Gefährdung oder Verlust einer wichtigen Beziehung, der Arbeitsstelle oder Ausbildungs-/Karrieremöglichkeit aufgrund des Spielens.

Wegen ihrer unterschiedlichen Definitionen werden die beiden Standards in der Wissenschaft viel debattiert, weshalb die WHO für die Entwicklung der elften ICD-Auflage eine „DSM–ICD Harmonization Coordinating Group“ ins Leben gerufen hat: im Sinne einer stärkeren Angleichung der Definitionen.

Wie genau wir unsere Egos per Mausklick – oder Touchscreen-Wichen – vergrößern wollen, ist auch Teil von Leménagers Forschungsgebiet. „Im Onlinespiel ist der Avatar oft dem Idealbild des Spielers näher als die eigene Person“, erzählt sie. Die Spielfigur sei etwa mutiger, erfolgreicher und heldenhafter, als sich der Betroffene selbst im realen Leben fühle. Das helfe, die eigene Unzufriedenheit zumindest für eine kurze Zeit zu verdrängen. Auch in sozialen Medien treibt der Wunsch nach sozialer Anerkennung User häufig dazu an, ein idealisiertes Selbstbild zu präsentieren, das freilich meist vom Tatsächlichen abweicht. Die Abweichung kompensieren die Likes – so hoffen wir zumindest.

Warnung vor Überreaktion

Mediensucht ist also Ausdruck unserer tiefsten inneren Bedürfnisse, der Beratungsbedarf dementsprechend groß: Immer mehr Betroffene nähmen die Hilfe in landesweit 16 Re:set!-Mediensuchtberatungsstellen in Anspruch, sagt Astrid Müller, die das Projekt wissenschaftlich begleitet. Dass zumindest die Computerspielsucht nun offiziell von der Weltgesundheitsorganisation anerkannt sei – und somit auch abrechnungsfähig mit den Kassen –, freut die Leitende Psychologin der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover: „Das ist eine bessere Arbeitsgrundlage für die Psychotherapie.“

Gleichzeitig warnt Müller vor Überreaktion oder gar Stigmatisierung: „Nicht jeder, der Medien viel nutzt, ist gleich süchtig und braucht eine Therapie.“ Die Psychotherapeutin begrüßt, dass das Projekt Re:set! um ein Jahr verlängert wird: Während dieser Zeit soll ein Leitfaden zur Beratung bei Mediensucht erstellt werden. Dieser solle Mediensuchtberater dann etwa auch dafür sensibilisieren, wann Betroffene an Psychotherapeuten zu überweisen seien.

Dass „noch viel getan werden“ müsse, sagt auch Tagrid Leménager. Chancen und Risiken der Mediennutzung müssten in Zukunft noch stärker ins Bewusstsein gerückt werden. Und dafür sei ein Projekt wie Re:set! ein guter Anfang.