#Yachtfleet von Mission Lifeline: Segeldemo gegen Seenot

Mehrere Segelboote protestieren auf dem Meer für mehr Seenotrettung. Die Crews wollen auch selbst Leben retten. Bald brechen sie nach Lampedusa auf.

Demonstranten der Yachtfleet an Bord auf dem Mittelmeer, eine Person spricht in ein Funkgerät

Vorbereitungen für den Notfall: Mitglieder von #Yachtfleet Foto: Danilo Campailla

MITTELMEER taz | Eine Frau treibt zwischen den Wellen und schreit. Eben ist sie gesprungen. Ihr Kopf verschwindet im Wasser, taucht auf, geht unter. Etwa fünf Meter von ihr entfernt treibt das Schlauchboot mit vier weiteren Menschen; sie stehen, schreien, winken. Die Seenottretter*innen knattern über die Wellen, ihr verstärktes Schlauchboot klatscht auf das Wasser. Als sie nahe sind, bremsen sie, packen an: die Frau bergen, die Leute beruhigen, damit nicht noch jemand springt. Alles muss gleichzeitig passieren.

Die Seenotretter*innen gehören zu #Yachtfleet: ­einer Demo aus Segelbooten auf dem Mittelmeer, organisiert von Mission Lifeline. Auch die Menschen, die soeben in ­Seenot zu sein schienen, gehören zur Besatzung. Mit drei Booten wollen die Demonstrant*innen länger als eine Woche auf dem Mittelmeer für Seenotrettung demonstrieren. Für den Fall, dass ihnen dabei Boote, die wirklich in Seenot sind, begegnen, trainieren sie vorher zusammen.

Ob Studentin, Künstlerin, Chefarzt, Solaranlageninstalla­teur, ob Ende 20 oder Mitte 70, alle sagen, sie seien gekommen, um zu helfen. Einige der Leute, die mitfahren, haben weder im Segeln noch in der Seenotrettung Erfahrung. Die meisten können das eine oder das andere.

Seenotrettung mit Segelbooten: diese Kombination hat es so bisher nicht gegeben. Entstanden ist die Idee, weil die großen privaten Schiffe nach Seenotrettungen immer wieder beschlagnahmt in Häfen liegen.

„Wir bereiten die Boote für Rettungen vor“

Bei der Demo geht es um die 18.000 Menschen, die in den letzten fünf Jahren im Mittelmeer ertrunken sind. Es geht um Berichte über staatliche wie nichtstaatliche Folterlager in Libyen und solche von Fischern, die immer wieder Leichenteile in ihren Netzen finden. Und es geht darum, die Seenotrettung der EU im Mittelmeer zu retten.

„Zu meinen Eltern habe ich gesagt: Würde ich nach Libyen, Syrien oder in den Irak fliegen statt nach Sizilien, wäre ich entspannter“, sagt Andrea Quaden. Die 33-Jährige ist humanitäre Nothelferin und war auf hoher See noch nie im Einsatz, nur an Land. Anfangs an der türkisch-syrischen Grenze, dann drei Jahre im Irak. Während der Offensive gegen den sogenannten Islamischen Staat, als man nicht wusste, ob eher 500.000 oder 1,5 Millionen Menschen binnen kürzester Zeit aus Mossul fliehen würden, war sie für Nichtregierungsorganisationen vor Ort.

Gerhard Meyer ist 76 und war mal Polizist. Früher, vor seinem Medizinstudium. Danach war er oft in der Antarktis, als Expeditionsarzt mit Pinguinologen. Er war Chefarzt, Psychotherapeut und hat in Lateinamerika Menschen in einer Urwaldklinik behandelt. „Ich bin als Arzt dabei, aber meine Aufgabe hier sehe ich vor allem in der psychologischen Versorgung“, sagt Meyer. „Eine Frau hält ihr totes Baby im Arm. Es ist gestorben. Auf der Fahrt im Boot erdrückt oder erstickt oder ertrunken. Was machst du?“

Die Runde überlegt. Einer der häufigsten Vorschläge: Körperkontakt herstellen. „Das kann auch helfen. Aber am Ende geht es darum, was mit diesem Baby passiert. Den toten Körper ­mitzunehmen, davon rate ich ab. Ich betreue die Mutter und am Ende übergeben wir beide gemeinsam ihr Baby dem Meer.“

Am Donnerstag, den 13. Juni trainieren die Crews seit einer Woche – und brechen auf. Das erste Ziel ist Lampedusa. 30 Stunden hat die #Yachtfleet geplant für 133 Seemeilen, das entspricht 240 Kilometern. Von Lampedusa aus soll es in die maltesische Such- und Rettungszone gehen: den Teil des Mittelmeeres, in dem Malta für Seenotrettung verantwortlich ist. Geplant sind acht Tage am Stück auf See. „Es braucht Vor­bereitung, um so lange auf See zu sein“, sagt Michele An­gioni, einer der erfahrenen Retter und Segler. „Wir bringen allen bei, wie man sicher segelt. Au­ßerdem bereiten wir die Boote für Rettungen vor. Zurzeit ist das Mittelmeer voll von Notfällen.“

Über 22.500 Menschen hat „Sophia“ gerettet

Zwei große Seenotrettungsprogramme hat Europa seit 2013 im Mittelmeer gestartet und wieder eingestellt. Mare Nostrum lief ein Jahr lang, bis Oktober 2014, und rettete mehr als 150.000 Leben. Macht etwa 400 pro Tag, in mehr als 420 Einsätzen. „Mare Nostrum verdeutlicht eine Idee“, sagte die da­malige italienische Verteidigungsministerin 2014. „Italien ist kein Land, das zulässt, dass das Mittelmeer, das eigentlich Leben schenkt, zu einem Friedhof wird.“ Trotz mehrfacher Bitten um Unterstützung ließ die EU Italien bei Mare Nostrum allein.

Nach dem Ende von Mare Nostrum starben viele im Meer. 2015 folgte die EU-Operation Eunavfor Med, später „Sophia“ genannt, nach dem ersten Kind, das je auf einem Schiff der Bundeswehr geboren wurde. Seit Anfang 2019 ist Sophia faktisch eingestellt. Offiziell läuft sie weiter. Ohne Schiffe.

Zwei

Auch nach der EU-Wahl ist unklar, wie sich Europas Asylpolitik entwickelt. Auf dem Mittelmeer spielen sich derweil täglich neue Dramen ab. Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni berichtet die taz ab dem 3. bis zum 24. Juni schwerpunktmäßig in Berichten, Reportagen, Interviews und Livestreams zu den globalen Flüchtlingszahlen, Protesten und Rettungen auf dem Mittelmeer, der Lage an den EU-Außengrenzen sowie zu den Asyl-Plänen von Innenminister Horst Seehofer. Die gesamte Berichterstattung finden Sie auf taz.de/flucht

In einem Magazin der Bundeswehr zogen deutsche Solda­t*in­nen Bilanz. „Monitor“ berichtete am 21. Februar 2019. „Das waren kriegsähnlich Szenen. Da waren Leute nackt im Wasser, die um ihr Leben kämpften, schrien, weil ihr Boot im Begriff war zu sinken“, sagte Jan Hodam, ein Oberbootsführer. Mehr als 22.500 Menschen haben deutsche Soldat*innen in den vier Jahren Sophia gerettet. Aktuell ist die „Sea-Watch 3“ wieder im Mittelmeer unterwegs. 22 Menschen auf einem 50 Meter langen, Hunderte Tonnen schweren Stahlschiff.

#Yachtfleet besteht aus drei Booten, mit einer Besatzung von insgesamt 26 Personen. „Wir hoffen, dass wir Leuten helfen können“, sagt Skipper Thomas Nuding. „Mit Schwimmwesten und Wasser. Wir sind gut vorbereitet. Für mich ist es auch ein Erfolg, wenn wir keinem Notall begegnen, aber öffentliche Aufmerksamkeit für die Problematik erregen.“

Laut einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von 2012 dürfen europäische Schiffe gerettete Menschen nicht nach Libyen zurückbringen. Seit 2017 zahlt die EU Millionen, um die sogenannte libysche Küstenwache so auszurüsten, dass sie das übernimmt. 46,3 Millionen Euro sind vorerst veranschlagt. Ohne Sanktionsmöglichkeiten.

Mit Elektroschocks gequält

Ein internationales Team aus Jurist*innen hat die EU wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beim Internationalen Strafgerichtshof angezeigt. Libyen befindet sich in einem ­Bürgerkrieg. In Berichten von Diplo­mat*innen, von Medien und der UN sowie in wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist zu lesen, dass und wie in staatlichen und nichtstaatlichen Gefängnissen in Libyen Menschen gefoltert werden: Sie werden an Ketten aufgehängt, geschlagen, mit Elektroschocks gequält, vergewaltigt, ausgehungert. Es gibt unbehandelte Epidemien, blutverschmierte Wände, Hunderte Leichen, die auf Straßen, Müllhalden und in Krankenhäusern gefunden werden. Auf Sklavenmärkten verkauft man Geflüchtete. Kinder werden zwangs­prostituiert. Aus zahlreichen Berichten geht hervor, dass die libysche Küstenwache sich am Schleusergeschäft beteiligt.

„Die Küstenwache ist an den Außenbordern interessiert: Sie sammelt die Boote wieder ein, und verkauft sie an die Schleuser zurück“, sagt Martin Ernst. Der 38-Jährige hat früher bei der Postbank gearbeitet. Heute studiert er Nautik, engagiert sich bei Mission Lifeline und trainiert die Crews der #Yachtfleet im Fahren der Beiboote. „Begegnungen sind meist gut ausgegangen. Sie sagen ‚Verpisst euch!‘ oder drohen: ‚Helper, Helper, I kill you.‘ Ich hatte schon heikle Situationen, aber die sind meist so gelaufen, dass sie sagten: Nehmt ihr die Leute, wir nehmen den Außenborder.“

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Nach jeder neuen Enthüllung hat die EU ihre Unterstützung der Miliz fortgesetzt. In der Hoffnung, dass es besser würde. Laut Nichtregierungsorganisationen ist es schlimmer geworden. „Die machen sich über uns lustig“, sagt der Beibootfahrer Helmut Philipp, als die #Yachtfleet nach Lampedusa segelt. Sollte es zu einer Rettung kommen, wäre das sein erster Einsatz.

Über Funk hat Philipp einen libyschen Standardkanal mitgehört. „Ich spreche kein Arabisch, aber sie sagen die Namen unserer Boote und lachen.“ Die #Yachtfleet hat drei private Segel- und drei Beiboote. Die libysche Küstenwache dagegen bekommt Militärschiffe von Italien, Millionen von der EU und ist bewaffnet mit Maschinengewehren.

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