Ausbruch aus dem Korsett

Ein Grenzgänger zwischen Jugendstil und Symbolismus, deutschem Impressionismus und Expressionismus: Das Kunsthaus Stade stellt den weitgehend vergessenen Maler Erich Kuithan vor

Im Spätwerk hält das Licht Einzug in farbenprächtige Landschaftsbilder: „Frühlingssonne“ aus dem Jahr 1915 Foto: Kunstsammlung Jena

Von Frank Keil

Irgendwann geht nur noch wenig, dann gar nichts mehr. Am Ende nicht mal mehr malen und zeichnen, das Unterrichten hat er schon länger aufgeben müssen, dabei war es lebenslang seine zweite künstlerische Stütze, nicht nur finanziell gesehen. All die Sanatoriumsaufenthalte in den vergangenen Jahren, die Reisen ins Warme und Milde vornehmlich der Bodensee-Region haben nichts gefruchtet: Erich Kuithan, seine Frau Traute und die zwei noch kleinen Kinder sind nun endgültig auf die Unterstützung von Freunden und ehemaligen Kollegen wie einstigen Förderern angewiesen.

Als der Maler gut ein Jahr später am 30. Dezember 1917 nach jahrelanger Krankheit stirbt, liegt er im Bett einer Berliner Mansardenwohnung. Er wird das Ende des Krieges nicht mehr erleben – und vor allem nicht die damit einhergehenden künstlerischen Um- und noch mehr Ausbrüche wie zuvor im Züricher Cabaret Voltaire. Und er wird erst recht deren Impulse nicht mehr aufgreifen können, dabei hätte all das seinem künstlerischen Weg neuen Schwung einhauchen können; hätte ihn vielleicht herauslösen können aus seiner Hinwendung zu einer oft mythisch-symbolistischen Malweise, die ihn angesichts seines langen bevorstehenden Todes am Ende so prägte.

Weitgehend vergessen

Erich Kuithan ist heute ein weitgehend vergessener und nur noch Fachleuten vertrauter Maler. Dessen Werk, nimmt man die Herausforderung des Eintauchens an, uns konzentriert auf einen Zeitraum blicken lässt, der einem ob seiner vordergründig wenig spektakulären Markierungen oft wegrutscht: von 1900 bis 1914 – als die Moderne in den Startlöchern stand, als ihr Potenzial erkennbar wurde, aber rückwirkend auch die Schwierigkeiten zu erahnen sind, sich von Althergebrachtem dauerhaft und womöglich radikal zu lösen.

Das Kunsthaus Stade zeigt derzeit eine Auswahl seines Schaffens und beweist ganz nebenbei, dass es seinerseits eines der derzeit unkonventionellsten Häuser im Norden ist: Eben noch war historisch grundierte Dokumentarfotografie der späteren Nachkriegsjahre zu sehen, noch davor war postpostmodern das Trio Jonathan Meese, Daniel Richter und Tal R. durch das dreistöckige Fachwerkhaus gerockert. Und nun schaut man auf Kuithans Bild „Landschaft mit Schafherde“ von 1913. Und staunt über die enorme Farbkraft des Bildes und fremdelt doch auch wenigstens ein wenig mit dem Ineinanderfließen von Tierwelt und Himmel und seinem entsprechenden Abdriften ins verklärend Religiöse.

Erich Kuithan wird 1875 in Bielefeld geboren. Als der Vater 1888 stirbt, zieht die Familie nach München, wo Kuithan eine Ausbildung erst an einer privaten Zeichenschule, dann an der Münchner Akademie der Künste erhalten wird. Seine ersten künstlerischen Schritte unternimmt er daher im Umfeld der Münchner Landschaftsmaler, die ganz ernst mit der Staffelei unter dem Arm durch das Alpenvorland wandern, er selbst wird besonders inspiriert vom Münchner Maler Karl Haider.

Kuithan wird die damals entstehenden wuchtigen Landschaftsgemälde, in denen der Mensch als Individuum nur eine untergeordnete Rolle spielt, später seine „braune Periode“ nennen. Die er auch überwindet, weil es ihn ins gegenteilige Licht zieht: nach Italien, wo ihn diverse Reisen zu einer bald auch gestischen Lockerheit ermuntern. Wichtig für seine Loslösung aus einer eben noch entsprechend traditionellen Bildsprache werden auch die zwei Jahre, die er von 1900 bis 1902 für das Kunstmagazin Jugend als Zeichner und noch mehr als Illustrator arbeitet, der Schrift, die der Epoche des Jugendstils ihren schlagkräftigen Namen geben wird.

Es sind überhaupt die feinen, durchaus bürgerlich-getragenen Einbrüche und die ersten Risse in der festgefügten Standesgesellschaft, die ihn faszinieren. Und so kommt er im Sommer 1903 ins thüringische Jena, damals ein Zentrum der aufkeimenden Lebensreformbewegung, die einerseits eine vor allem praktische Haltung gegen die immer brutaleren Zugriffe des noch mechanischen Industriezeitalters sucht, sich jenseits ihrer kritisch-bürgerlichen Herkunft aber auch der Arbeiterbildung verpflichtet sieht, um neue künstlerische Ausdrucksweisen wie generell einen neuen Lebensstil zu erproben und dann zu etablieren.

Foto: Schon gezeichnet von der Tuberkulose: Erich Kuithan um 1915 Foto: Kunstsammlung Jena

Die Aufgabe, die man ihm in Jena stellt: vor Ort eine Zeichenschule aufzubauen und dann zu leiten. Kuithan macht sich an die Arbeit, gibt bald Zeichenkurse, entwirft aber auch Möbel, Geschirr, auch Schriften und immer wieder so genannte Reformkleider: Kleidung, die freie, unmittelbare körperliche Bewegungen ermöglichen soll, statt einen ins stoffliche Korsett der Konventionen zu zwängen. Ein interessanter Nebenzweig: Kuithan wird damals Mitglied des Bundes für Heimatschutz, eine der ersten Naturschutzorganisationen.

Aus dem Braun ins Licht

Doch wenige Jahre später werden an der Jenaer Zeichenschule die Mittel knapp, er wird entlassen, trotz vieler Zusprache von Kollegen, die sich für ihn einsetzen. Er folgt 1911 einem Ruf an die Königliche Kunstschule in Berlin, er löst sich weiter von seiner allegorischen Formsprache, etabliert sich zunehmend im Expressionismus – zugleich hat er ein Jahr zuvor einen ersten schweren, körperlichen Zusammenbruch erleiden müssen. Und es zeichnet sich ab, dass er an der Tuberkulose leidet; eine amtliche Diagnose erhält er 1914. Der absurden Idee, vielleicht Kriegsmaler zu werden, kann er auch deswegen nicht folgen.

Wichtig und dann lebensentscheidend wird noch in seiner Jenaer Zeit die Begegnung mit Traute Frieß, die ihm nach Berlin folgen wird. Er lernt sie kennen, da ist sie gerade mal 15 Jahre alt, er selbst ist 34. Zwei Jahre später heiraten sie. Sie wird sein zentrales Model, aber auch Projektionsfläche einer idealen Gefährtin, Kern auch eines familiären Teams als Ideal der Gesellschaft, die er in verschiedenen Daseinsformen immer wieder skizziert und dann malt: als Schaumgeborene, als stets bildfüllende in aller Ruhe in die Welt Schauende, als die Frau, die für immer bleibt.

Bis 15. September, Kunsthaus Stade