Kommentar Grüne im Höhenflug: Das Konzept „Merkel“

Radikale Klarheit? Von wegen. Diffuse Indifferenz ist ein Wesensmerkmal der Grünen geworden. Jeder soll sich bei ihnen wohlfühlen.

Bärbock und Habeck bei einer Parteisitzung

Wer wird KanzlerkandidatIn? Grüne Erfolgsspitze mit Annalena Bärbock und Robert Habeck Foto: dpa

Die Grünen haben in dieser Woche mal wieder ein Meisterstück der politischen Kommunikation vorgelegt. Allen in der Partei ist klar, dass sie vor dem nächsten Wahlkampf einen Kanzlerkandidaten benennen, wenn die Umfragewerte so gut bleiben. Gleichzeitig lobt Robert Habeck die Doppelspitze über den Klee. Das neue Verständnis von Führung sei, dass „nicht einer der große Zampano ist“, sagt er.

Was soll die interessierte Öffentlichkeit davon halten? Na ja, alles, was sie will. Die quotenbegeisterten Feministinnen dürfen hoffen, die regierungswilligen Pragmatiker, die Klarheit und einen einzigen Kandidaten wollen, auch. Die Habeck/Baerbock-Grünen erfinden eben die erste Doppelspitze der Welt, in der einer KanzlerkandidatIn ist, der oder die andere aber völlig gleichberechtigt ist. Man könnte auch sagen: Sie erzählen charmanten Unfug, aber keiner soll es merken.

Der Vorgang ist interessant, weil er pars pro toto für das Erfolgsrezept der Grünen von heute steht. Sie behaupten zwar, für radikale Klarheit zu sein, bleiben aber unbestimmt genug, um niemanden zu verschrecken. Klug ausgespielte Indifferenz ist ein Wesensmerkmal der Grünen geworden. Sie ist nicht das schlechteste Rezept für unübersichtliche Zeiten.

Wer Dosenbier trinken, Diesel fahren oder hemmungslos um die Welt fliegen will, darf das aus grüner Sicht gerne tun – solange er sein Kreuzchen an der richtigen Stelle macht. Wer will schon individuelle Lebensstile beurteilen? Radikale Wachstumskritik, wie sie etwa der Volkswirtschaftler Niko Paech vertritt, spielt in der grünen Kommunikation keine Rolle mehr. Wäre ökologisch sinnvoll, ist aber unbequem.

Die Liste solcher Beispiele ist lang. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt warf der SPD vor, dass ihre Grundrente nicht gegenfinanziert sei. Und verschwieg, dass die grüne Grundrente viel teurer ist. Habeck kann sich Enteignungen in der Wohnungspolitik vorstellen, im Notfall und als letztes Mittel natürlich. Aber sobald Juso-Chef Kevin Kühnert ein paar radikalere Thesen raushaut, gucken wichtige Grüne so angewidert, als habe sich ein betrunkener Jugendlicher auf die Kaffeetafel übergeben.

Vorsichtige Einwände werden routiniert pariert

Besonders auffällig sind diese Widersprüche in der Flüchtlingspolitik. Die Grünen im Bund beschreiben sich gern als humanitärer Gegenpol zur AfD. Mitfühlend und weltoffen, aber auch ein bisschen pragmatisch. Die Grünen in den Ländern exekutieren eine Flüchtlingspolitik, mit der die CDU gut leben kann. Länder wie Hessen oder Baden-Württemberg schieben Straftäter nach Afghanistan ab, während die Grünen im Bund einen „sofortigen Abschiebestopp“ fordern. Fürs Protokoll: Abschiebungen in ein Kriegsland sind für Grüne kein Grund, eine Koalition platzen zu lassen, nirgendwo.

Vorsichtige Einwände werden routiniert pariert. Spricht man Grüne aus Schleswig-Holstein darauf an, warum sie in der Jamaika-Koalition ein Abschiebegefängnis mittragen, entgegnen sie mit treuherzigem Blick, dass das für die Häftlinge das Beste sei, weil sie ja vorher in viel schlimmere Knäste in Nachbarländern transportiert wurden. Keine Frage, man kann das so sehen. Aber mit dem utopistischen Überschuss, den die Grünen im Bund verströmen, hat solcher Brutalstpragmatismus nichts zu tun.

Im Moment nörgeln Grüne ganz gern darüber, dass JournalistInnen auch über Personen und Macht schreiben und nicht nur über die berühmten Inhalte. Gleichzeitig profitieren sie wie keine andere Partei von gelungener Personalisierung. Habeck setzt sich gekonnt in Szene, am Strand, den Wind im Haar, lachend und mit ausgebreiteten Armen, so dass die Becks-Werber ganz neidisch werden. Bitte keine Texte übers Personal? Das Großartige ist, dass den Grünen ihre Widersprüche selbst nicht mehr auffallen, so sehr ist ihnen die gelebte Dialektik in Fleisch und Blut übergegangen.

Die Grünen sind im Moment eine riesige Projektionsfläche. Ein weißes Blatt Papier, auf das sich das im weitesten Sinne ökoaffine und progressiv fühlende Bürgertum seine Wünsche in bunten Farben malt, egal ob links, liberal oder konservativ. Der Hardcore-Öko mit Lastenfahrrad und Baumwollbeutel darf sich bei den Grünen ebenso zu Hause fühlen wie die konservative Mittelständlerin aus Baden-Württemberg oder der IT-Fachmann, der seine Kinder morgens mit dem SUV vor der Schule abwirft.

Die interessante Frage ist, ob das grüne Erfolgsmodell kollabiert, wenn sie in Regierungsverantwortung kommen. In ihrer breit gewordenen Wählerschaft gibt es harte Interessensgegensätze, die nicht durch freundliches Reden aufgelöst werden können. Reale Entscheidungen werden Enttäuschungen produzieren. Wahr ist aber auch: Modern wirkende Diffusität funktioniert in Deutschland gut und lange. Die Grünen schreiben das Konzept Angela Merkels auf ihre Weise fort. Das könnte erstaunlich zukunftstauglich sein.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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