Der Sofa-Flüsterer

Reinhard Krämer war das ewige Teppichverlegen und Gardinenhängen des Raumausstatter-Daseins leid. Jetzt bringt er die Innereien von Biedermeier & Co wieder in statische Harmonie. Schließlich gilt: Das Auge sitzt mit

Hochgebockt steht das gute Stück im Raum, seinerseits auf löwigen Füßen thronend. Ein Sofa. Biedermeier im Endstadium, stilisierte Lilien und Fische mit hochgereckter Schwanzflosse verweisen schon auf neue ästhetische Gefilde. Davor Reinhard Krämer, bewaffnet mit einer beeindruckenden Polsterer-Nadel – immerhin einen halben Meter lang. Ein schönes Zitat hat uns zu ihm eingeladen: „Ich bin Polsterer vom Herzen her.“ Und zwar genau seit fünf Jahren in einer geräumigen Werkstatt an der Elsasser-/Ecke Graf-Moltke-Straße.

Jetzt erprobt er seine Kunst an dem Sofa-Trumm, das Krämers ganzheitliche Zuwendung durchaus nötig hat. Die Visitenkarten über dem Arbeitstisch verweisen auf benachbarte Berufe, deren Unterstützung offenbar ebenfalls immer mal Not tut: von der Messer- und Scherenschleiferei („Sofortdienst“) über die Holzwurmbekämpfung („ohne Gift“) bis zum Holzbildhauer. „Wenn Schnitzwerk reparaturbedürftig ist, geben wir das den Fachleuten weiter“, bestätigt Krämer. Er konzentriere sich ganz auf seine Kernkompetenz: das Polstern. Und wodurch wird man zum Polsterer des Herzens? Man liest, wie Krämer, als Jugendlicher eine entsprechende Reportage in der Bild-Zeitung. Und ist fasziniert von der Vielseitigkeit der erforderlichen Fertigkeiten.

Ob Bild nun bildet oder nicht – die Betriebe und Berufsschulen tun es in Sachen Polsterei jedenfalls kaum noch. Das traditionelle Handwerk ist zum Anhängsel der „Raumausstatter“-Ausbildung geworden, die wiederum im Wesentlichen aus den Bereichen Bodenlegen und Dekoration besteht. Wie es dann im wirklichen Berufsleben gebraucht wird. Krämers Erfahrung: „Die meisten leben von der Gardine.“ Früher war das bei ihm auch so. Irgendwann aber habe er sämtliche Teppiche und Wandbehänge abgestoßen, „um mich ganz meiner großen Leidenschaft widmen zu können.“

Also zurück zum Löwensofa: Was quillt das aus dem Inneren? Duftendes Heu? Lecker Hanf? „Palmgras“, erklärt Krämer. Das schaffe, richtig getrocknet und verarbeitet, Stabilität und Komfort für Jahrzehnte. Dann die nächste Wissenschaft: das Federn. Statt eines Fertigkerns, in dem alles en bloc verbunden ist, braucht unser Biedermeier-Möbel handgeschnürte Spiralen, vernäht mit dreifach gezwirnten Fäden. Wie im Originalzustand. Die Ursprungsfederung hat immerhin 130 Jahre ihren Dienst getan, ein gut Teil davon freilich unter schonenden Umständen in Sonntags-Stuben.

In Krämers Werkstatt lautet jetzt die Frage: Wie viele Windungen – „Gänge“ – braucht’s pro Spirale, und in welcher Materialstärke? Krämer entscheidet auf sieben Gang und vier Millimeter. Das gehe nach Gefühl und Erfahrungswerten, „wir simulieren die zu erwartende Kompression“. Bekommt ein notorischer Linkssitzer auf Dauer keine Probleme mit der Möbelstatik? Wenn jemand 20 Jahre auf stets dem gleichen Sofaabschnitt sitze, könne sich das schon auswirken, sagt Krämer: „Bei einer Schaumstoff-Polsterung wäre das aber viel extremer.“

Schaumstoff scheint Krämer sowieso nicht so zu mögen. Umso ärgerlicher, dass seit den Achtzigern fast alles damit ausstaffiert wird. Vorbei die Zeiten, in denen selbst Armlehnen und Rückenstützen sorgfältig gefedert wurden – wie bei dem in einer Ecke wartenden Ledersessel, den der Großvater der Kundin, ein Sattlermeister, noch selbst gefertigt hatte. Dabei gilt doch: Schaumstoff gibt nach, Federn stützen. Die Faustregel für unverdrossene Schaumstoffnutzer heißt übrigens: Kaltgeschäumtes nehmen.

Abermals zurück zum Sofa. Was kommt jetzt drumherum? Vorne im Ladenlokal liegen rund 1.500 Stoffproben zur Auswahl – die sich von den (ebenfalls vorhandenen) Großhändler-Musterbüchern deutlich unterscheiden. Letztere sind, streng genommen, eher so etwas wie Kollektionen des Grauens. Das Löwenfüßige bekommt ein Kleid aus Wolle von Mohair-Ziegen. Und wenn man Leder möchte? Dann geht der Trend zum Rind: Schwein ist zu klein, eine Kuh hingegen biete durchaus fünf oder sechs Quadratmeter, erläutert Krämer. Für was auch immer sich die Kundschaft entscheidet, der Chef und sein dreiköpfiges Team greifen zu ihren Riesennadeln und legen los. Entscheidend ist das richtige „Garnieren“: Polster und Stoff müssen so am Federwerk befestigt werden, dass sich einladende Schwellungen, Rundungen und Kantenverläufe modellieren. Das Auge sitzt mit.

Vielleicht müssen auch noch kleinere Oberflächenschäden beseitigt werden – mit Schellack, dem gleichen Läusesekret, aus dem die Urgroßeltern der CDs gepresst wurden. Dann aber sieht alles aus wie frisch dem Biedermeier-Katalog entsprungen. So eine Komplett-Aufarbeitung kostet rund anderthalb Tausend. Wer sich das leistet? Möbel aufwendig fit zu machen, in denen man nicht mal anständig lümmeln kann – weil die Lehne so fest und gerade ist? Die meisten KundInnen seien zwischen 50 und 60 Jahre alt, berichtet Krämer. Es gebe aber auch den Typus 35, Ikea-Zeit vorbei und ein gutes Stück von Oma geerbt. Die würden gern in Qualität investieren, zumal gleichwertige Neuanschaffungen deutlich teurer seien. Und bei Günstig-Importen aus Asien und Afrika sitze man ohnehin auf aufgeschnittenen Autoreifen statt auf einem Federkern.

Zumindest für die elastische Halbwertszeit ist das ein Nachteil. Außerdem fehlt natürlich die persönliche Patina, die Aura des Alten – und der Reichtum der schwarzen Löcher, zu der die Sofaritzen im Laufe der Jahre unweigerlich mutieren. Sind sie nicht Fundgruben für Ohrgehänge, Reichsbanknoten und Münzraritäten? Krämer: „Es findet sich schon so manches – am häufigsten allerdings Chips und Salzstangen.“ Auch Häkelnadeln, „aber die sind in letzter Zeit seltener geworden“.

Was auch für die Polsterer zu gelten scheint. „Es kommen keine mehr nach“, meint Krämer, irgendwann sterbe der Beruf aus. Der 42-Jährige ist sich nicht mal sicher, ob es in den 20 Jahren bis zu seiner eigenen Rente noch genug zu polstern gibt. Nicht mangels alter Stücke, sondern weil die Hälfte seines Geschäfts aus der Reparatur moderner Qualitätsmöbel bestehe. Dort aber breche der Markt am deutlichsten ein. Henning Bleyl