„Gehen wir zu dir oder zu mir?“

Bundespräsident Köhler schickt Bundeskanzler Schröder einen Fragenkatalog

Deutschland am Abgrund. Viele verunsicherte Bürgerinnen und Bürger, Globalisierungsgewinner und -verlierer, Staatsbürger in Uniform, Schulkinder und Kirchenvertreter fragen sich: War die Vertrauensfrage im Bundestag etwa nur eine „Inszenierung“? Kann der Kanzler tatsächlich nicht mehr auf das „stetige Vertrauen“ der Mehrheit im Parlament bauen? Dies ist nach Artikel 68 des Grundgesetzes die Voraussetzung für eine Neuwahl. Der Ball liegt nun im Feld des Bundespräsidenten.

Vorfahrt für Horst Köhler: Wird er das gordische Quadrat zerschlagen, den Bundestag auflösen und den Weg für Neuwahlen, für neuen Mut und Optimismus im „Land der Ideen“ freimachen? Köhler warnt schon jetzt vor zu großen Erwartungen und will vor allem eines vermeiden: handwerkliche Fehler. Die „Rückgewinnung“ des Vertrauens in die Politik aber hat für ihn „absolute Prio eins“. Deshalb lässt er zurzeit seine Mitarbeiter alles genauestens prüfen, prüfen, prüfen und nochmals nachprüfen. Selbst vor einer Spindkontrolle im Bundeskanzleramt will er, der Pragmatiker aus Leidenschaft, nicht zurückschrecken: Verfassungskonformität, Spaltmaße, Luftdruck et cetera. Bis ins kleinste Detail muss alles stimmen. „Das sind wir der Souveränin und dem Souverän auch schuldig“, sagt ein Sprecher des Bundespräsidialamtes. „Das Grundgesetz muss so sauber sein und bleiben, dass man davon essen kann“, sekundiert auch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse.

Um Köhlers Entscheidung zu beeinflussen, lässt Kanzler Schröder derzeit Äußerungen prominenter Reformkritiker aus den Reihen der rot-grünen Koalition zusammenstellen. Die Zitatsammlung umfasst schlimme Äußerungen und böse Entgleisungen wie „Agenda 2010 finde ich nicht so gut“, „Muss das sein?“ oder „Nachbessern!“, die Schröders These belegen, dass er längst nicht mehr „auf stetiges Vertrauen“ rechnen kann.

Der Bundespräsident aber will es noch genauer wissen. Chefsache eben. Er hat Gerhard Schröder am Montag mit der Berliner Reiterstaffel einen Fragenkatalog zur Vertrauensfrage und zur angestrebten Neuwahl geschickt. Unter dem programmatischen Titel „Gut zu wissen“ stellte der Bundespräsident dem Bundeskanzler folgende Fragen:

1. Wer schreibt denn heute noch Briefe?

2. Wie viel Quadratmeter sind das und was zahlt ihr?

3. Kann man davon leben?

4. Was bedeutet das für mich konkret?

5. Gehen wir zu dir oder zu mir?

6. Hast du die alle gelesen?

7. Drin oder Linie?

8. Na, wie geht’s uns denn heute?

9. Darf’s ein bisschen mehr sein?

10. Was heißt eigentlich Horst Hrubesch?

Inzwischen bestätigte Regierungssprecher Béla Anda den Eingang des Fragenkatalogs. Die Antworten würden derzeit zusammengestellt. Anda verwies darauf, dass auch 1982 Bundespräsident Karl Carstens nähere Erläuterungen im Zusammenhang mit der Vertrauensfrage von Kanzler Helmut Kohl gewünscht habe. Die Antwort der Bundesregierung besteht nach Angaben Andas „aus mehreren Elementen“, wie die Nachrichtenagenturen melden. Ganz Deutschland freut sich jetzt auf die Elemente.

GERALD FRICKE