Die ganze Stadt ist eine Bühne

Und der beste Ort, sie zu bestaunen, ist ein Fensterplatz im ICE. Wie an einer Perlenkette reihen sich die Sehenswürdigkeiten Berlins aneinander. Doch mit dieser kostenlosen Werbung für die Stadt soll nach dem Willen der Bahn Schluss sein. Ein Nachruf

Am besten ist, man setzt sich an ein Fenster in Fahrtrichtung rechts

VON UWE RADA

Damals, zu Mauerzeiten, war der Funkturm das Zeichen der Ankunft. Schon von weitem ragte er in den Himmel, und je näher ihm der Interzonenzug auf die Pelle rückte, desto aufgeregter war der Reisende. Gleich wird es mit Inga Humpe heißen: „Bahnhof Zoo, der Zug rollt ein“, und dann ist wieder alles da, weswegen man die Provinz verlassen hat: die Säufer, die Gedächtniskirche, die U-Bahn-Linie nach Kreuzberg. Weiter konnte man nicht fahren damals, aber das musste man auch nicht. Berlin war auch als halbe Stadt eine Sensation, vor allem wenn der Heimatort Kassel, Eislingen/Fils oder Bochum hieß.

Man sieht den Funkturm heute noch, wenn man mit dem ICE in die Hauptstadt surrt. Gleich hinterm S-Bahnhof Messe-Süd taucht er auf, zur Linken, neben ihm das ICC. Und noch immer ist die Ankunft mit der Bahn eine kleine Sensation – vor allem seit sich die Stadt verdoppelt hat. Nirgendwo reihen sich die verschiedenen Sedimente der Stadtgeschichte in dieser Dichte aneinander wie rechts und links der Stadtbahntrasse. Mit dem ICE vom Zoo zum Ostbahnhof, das sagt mehr über die Stadt als jedes „Berlin Welcome Package“.

Nostalgisch ist die Anfahrt zum Bahnhof Zoo. Charlottenburg wirkt mit seinen halben Häusern, halben Höfen und ganzen Brandmauern noch immer wie ein vergessener Ort aus Zeiten der Teilung: abgeblätterter Putz, eine Schokoladenwerbung aus vergessenen Jahrzehnten, in den Baulücken aus dem Krieg klemmen die Häuser wie Schuhkartons. Regennass ist es am schönsten oder im Schneetreiben. Wäre die Stadt eine Abfolge von Jahreszeiten, die Strecke vom Bahnhof Charlottenburg zum Zoo wäre der Winter, der dem Herbst in Spandau folgt.

Am besten ist es, man setzt sich in Fahrtrichtung rechts. Rechts ist nämlich die Schokoladenseite von Eisenbahnberlin, und rechts deutet sich auch schon das Neue an in Berlin, und „neu“ wird es noch oft heißen bis zum Ostbahnhof. Das „Neue Kranzler-Eck“ ist ein Ausrufezeichen, das sie an den Zoo gesetzt haben, eine gläserne Behauptung, und trotzdem ist es nur der westlichste Vorposten von Mitte. Vor der Kulisse der Gedächtniskirche wirkt es wie ein Eisberg, der noch nicht abgetaut ist. Winter in Berlin können hartnäckig sein, wie gut, dass es im ICE-Abteil eine Klimaanlage gibt.

Doch dann ein erster Hauch von Frühling. Kaum ist der ICE wieder angerollt, taucht er ein in die grüne Lunge der Stadt. Zuerst der Zoologische Garten (mit Tieren), dann der Tiergarten (ohne Tiere), einst abgeholzt und wieder aufgeforstet. Zur linken blinken bunte Hausboote auf der Spree, in einem hat einmal ein grüner Abgeordneter gewohnt, das war lange vor der rot-grünen Bundesregierung.

„Vor der Bundesregierung“ ist auch die beste Beschreibung für die Fahrt durch Moabit und das Hansaviertel, über die Spree hinweg, links die Villen der Lüneburger Straße, rechts schon der erste Ausläufer des Regierungsviertels, die „Schlange“ auf dem Moabiter Werder. Und plötzlich, so scheint es, reißt die Wolkendecke auf, und es ist Sommer. Summer in the City. Sommer in der Hauptstadt.

Es ist eine grandiose Inszenierung, die sich dem Reisenden bietet: das helle Kanzleramt mit seiner – beinahe – griechischen Fassade, die wie geschaffen ist fürs Sonnenlicht. Der Reichstag mit der Kuppel (Licht, Transparenz, Demokratie), die Bundestagsbauten, allen voran das Paul-Löbe-Haus. Die ganze Hauptstadt eine Bühne, und die besten Plätze sind umsonst – in Fahrtrichtung rechts im Intercity-Express.

Dem Sommer im Zentrum der Macht folgt der der Hedonisten im Minutenabstand. Den Übergang markiert der Bundespressestrand, jene Institution zum Vergnügen von Politikern und Journalisten, von der man nicht so recht weiß: Gehört sie nun ins Regierungsviertel oder in die Neue Mitte, das Berlin rings um den Hackeschen Markt? Dem Berlin-Neuling, der seine ersten Eindrücke von der Stadt im ICE sammelt, ist es egal: Er hat es längst aufgegeben, alle Bilder ordnen zu wollen. Längst lässt er sich treiben im sanften Schwung der Stadtbahngleise.

Berlins „Neue Mitte“, das wird unserem Reisenden freilich aufgefallen sein, legt wert auf Distanz. Man soll ihr nicht so ohne weiteres auf die Finger schauen können, deshalb bleibt der Blick auf den Hackeschen Markt bei der Fahrt durch den gleichnamigen Bahnhof versperrt. Aber auch so bekommt man einiges mit vom sommerlichen Treiben in Mitte: das Strandbad im Monbijoupark, die Cafés mit Blick auf die Spree, die Ausflugsboote an der Friedrichsbrücke, die Aufbauarbeiten für das abendliche Konzert auf der Museumsinsel.

Dass sich der Alexanderplatz etwas weniger geniert als der Hackesche Markt liegt daran, dass hier bereits die ersten Herbstwinde aufziehen. Zugige Schneise haben ihn manche seiner Neider schon genannt, einer sprach sogar von einer „sibirischen Schneise“. Kein Zweifel: Im Wechsel der Berliner Jahreszeiten kündigt sich ein rauer Wind an. Nach dem alten Westberlin, der neuen Hauptstadt und der neuen Mitte folgt nun die alte DDR, auch wenn man mancherorts bereits Hand an sie angelegt hat. Am Alex dagegen ist alles, wie es war: Fernsehturm, Haus des Lehrers, Rathauspassage, Rotes Rathaus. Der Sommer, hat er wirklich stattgefunden?

Herbstlich, mit allerhand Lücken im Gebiss, gibt sich die Stadt auch auf den letzten Metern vor dem Ostbahnhof. Rechts der Spree ist Ruinenland, Investorenland, Abenteuerland, eine Mischung aus Hightechfassaden, Wagenburgen und wilden Cafés am Spreestrand. Nur das Badeschiff und das schwimmende Restaurant Hoppetosse kann der Ankömmling im ICE nicht mehr bestaunen, die liegen noch weiter östlich als der Ostbahnhof – dort, wo Berlin scheinbar fließend übergeht in den Osten des Kontinents.

„Berlin-Ostbahnhof, dieser Zug endet hier.“ Gott sei Dank hat man wenigstens Anschluss: nach Cottbus, Warschau und zurück. Aber zurück in die Provinz?

Wer Berlin zum ersten Mal von der Stadtbahntrasse aus gesehen hat, der bleibt. Wer dagegen im Tunnel einfährt, für den erblickt Berlin am Lehrter Bahnhof das Licht der Welt. Summer in the City, das ist eben nicht alles.