Ohne späte Peinlichkeiten

Die brüchige Stimme und die schmalzigen Stellen: Lou Reed hatte bei seinem Konzert im Tempodrom eine Grippe, war aber weniger übellaunig als erwartet, reckte manchmal die Arme und machte sogar Konzessionen an die Wünsche des Publikums

VON JOCHEN SCHMIDT

Lou Reed in Berlin, man sorgt sich ein bisschen, ob die Stadt sich seiner als würdig erweisen wird. Schließlich ist sie inzwischen weit von dem entfernt, was er in „Berlin“, seiner Hommage an die Stadt, beschrieben hat. Und prompt hatte sich ein Berliner Stadtmagazin im Vorfeld auch gleich ein ruppiges Interview eingehandelt

Lou Reed ist berühmt für sein schlechtes Verhältnis zur Presse, dabei müsste es eigentlich noch viel schlechter sein, wenn man dreißig Jahre lang immer wieder nach Velvet Underground gefragt wird oder nach seiner Bisexualität, gegen die ihm seine Eltern einst eine Elektroschocktherapie verordnet hatten. „Sie wollen mich sterben sehen“, hat er Anfang der Siebziger auch mal über sein Publikum gesagt.

Tatsächlich hatte Lou Reed nie solch einen Publikumszuspruch wie in der Zeit, als er sich jedes Mal auf der Bühne mit dem Mikrofonkabel den Arm abband, um sich eine Spritze zu setzen. Die über Vierzigjährigen, die das Tempodrom heute füllen, ziehen es sicher vor, wenn er sich mit dem Sterben wenigstens noch kurz Zeit lässt, schließlich hat man mehr als siebzig Euro bezahlt für den Spaß.

Lou Reed ist gar nicht so unfreundlich wie befürchtet. In seinen schlimmsten Zeiten hat er ja schon mal das Saallicht angelassen, um sich am Publikum zu rächen, das ihn unvermeidlich mit „Walk on the wild side“-Zurufen quälte. Im Tempodrom geht dem Konzert eine Durchsage mit der Bitte voraus, nicht zu rauchen und die Handys auszuschalten. Rock ’n’ Roll geht inzwischen auch ohne unsportliche Hilfsmittel. Und weil heutige Rockmusiker oft von vornherein auf selbstzerstörerische Phasen verzichten, umweht Lou Reed, der von den Drogen geheilt ist und inzwischen auch auf Alkohol und Zigaretten verzichtet, die Aura eines Kriegsveteranen, dessen Überleben für den Tod vieler anderer steht. Auf seiner aktuellen Tour spielt er keinen Velvet-Underground-Song. Erstaunlich viel kommt von den Alben „Time Rocker“ und „The Raven“. Dafür hört man zum ersten Mal „My house“ live, eine Hommage an den verehrten Autor und Mentor Delmore Schwartz: „He was the first great man that I had ever met.“ Man merkt: Lou Reed ist einer der wenigen Rockmusiker, die sich für einen Schriftsteller halten, was auch eine viel geschicktere Position ist, denn in kaum einem Beruf kann man so würdevoll altern, wogegen man als Rockmusiker zur späten Peinlichkeit verdammt zu sein scheint. Nicht so Lou Reed, der einen für kurze Zeit wieder glauben lässt, dass aus New York nur Cooles kommen kann.

Dieser herrliche Brooklyn-Tonfall! Dieser Spaß, mit dem er die Rock-’n’-Roll-Gesten durchzieht, die in den Himmel gereckten Arme, das Abwedeln des finalen Schlagzeug-Tuschs mit der Gitarre. Sein Karriereziel soll ja immer gewesen sein, „Rock ’n’ Roll auf dem Niveau von ‚Die Brüder Karamasow‘ zu machen“. In diesem Konzert wünscht man sich eher, auch einmal „Die Brüder Karamasow“ auf dem Niveau eines seiner Drei-Akkord-Riffs lesen zu dürfen. Gleichzeitig hatte er gar nicht so Unrecht mit der Behauptung, seine Texte könnten auch ohne die Musik bestehen. Manche Stücke grenzen schon an Spoken Poetry. Er kann auch böse klingen, wie in „The blue mask“, diesem Selbstporträt des Dichters als Folteropfer: „Make the sacrifice / mutilate my face / If you need someone to kill / I’m a man without a will“.

Bei solchen Stücken vergisst man völlig, dass Lou Reed schon 63 Jahre alt sein soll. Mit Mike Rathke (Gitarre) und Fernando Saunders (Bass) hat er zwei altgediente Spitzenkräfte dabei, die, anders als John Cale, seinem Ego nicht im Weg stehen, sondern ihm in einer atemberaubend dramatischen Version von „Exstacy“ assistieren. In langen Instrumentalpassagen, in denen er einfach nur den satten Sound seiner Gitarre zu genießen scheint, nach dem er jahrelang gesucht hat, treibt er mit der Unbekümmertheit des Dilettanten jedes Solo an den Rand eines atonalen Gewitters. Das eigentlich eingeplante „Halloween parade“ fällt leider seiner Grippe zum Opfer. Er nutzt ein irrwitziges Cellosolo von Jane Scarpantoni, um sich gemächlich mit bereitstehenden Tempotüchern die Nase zu putzen. Aber gerade die brüchige Stimme, die heute an den schmalzigen Stellen scheitert, macht einen Song wie „Perfect day“ wieder erträglich, den er als einzige Konzession an den Wunsch des Publikums nach Klassikern bringt. Anschließend fragt mich meine Begleitung, ob es eigentlich stimme, dass es im Osten auch einen Sänger gab, der Lou Reed hieß. Nein, muss ich sie enttäuschen, leider nicht, sonst hätten wir uns ja das mit der Wende sparen können. Der bei uns hieß Dean und ist ertrunken.