Nölen, Spott und Klage

POESIEFESTIVAL Beide sind historische Verlierer, die Südstaaten und die DDR. Der Vergleich von Lyrik aus DDR und USA zeigt, dass wir noch auf den Ost-Blues warten müssen

Wie ich sie beneide, die Amerikaner, um die soziale Kompetenz in solchen Situationen

VON MICHAEL RUTSCHKY

Das müsse er sehen, sagte Leroi, Professor in Chicago, den „Reim auf den Arbeiterstaat“, ein Abend mit Gedichten, die Uwe Kolbe ausgesucht hat und die er gemeinsam mit Manfred Karge, Katja Lange-Müller – deren Berlinern so angenehm als preußischer Common Sense anmutet – und Christa Moog vortrug.

Der große Saal war dünn besetzt an dem warmen Sommerabend. Drei Tische streng nebeneinander auf der Bühne – wie Altäre!, flüsterte Leroi – dann das Stehpult für Willkomm und Abschied. Auf der Rückwand Projektionen von stolzen Bauten der DDR-Moderne, die das Publikum immer wieder zum Kichern reizten. (Wieso, protestiert der Westbürger immer noch. Soll ich euch mal Kassel-Niederzwehren oder München-Neuperlach abfotografieren? Herzogenaurach ist auch eine Schande.)

Seit langem verfolgt Leroi eine These: Das Gebiet der ehemaligen DDR werde sich kulturell und identitär analog zu den amerikanischen Südstaaten entwickeln. Wie diese den Bürgerkrieg gegen den Norden verloren, so die DDR den (kalten) Bürgerkrieg gegen Westdeutschland. Woraus eine heroische Wehmut, eine stolze Nostalgie resultiere, ein unbesiegbares Überlegenheitsgefühl. Und Musik: Blues, Jazz, Rock ’n’ Roll, generiert von den Sklaven des Südens. Der sich so viel auf seinen „noble cause“ einbildete, wie Ostdeutschland auf den Sozialismus?

Doch Leroi – mit guten Deutschkenntnissen ausgestattet – konnte so etwas nicht erkennen an dem DDR-Gedichtabend in der Westberliner Akademie der Künste, einem der Höhepunkte zum Abschluss des Poesiefestivals in der Hauptstadt. Die einzelnen Gedichte verschwammen zu einem allgemeinen Nölen, das sich manchmal zu Spott, manchmal zu Klagen steigerte und oft so hermetisch blieb wie westdeutsche Gedichte derselben Zeit. Prägnant steht ein Preisgedicht von Johannes R. Becher im Gedächtnis, der mit geschichtsphilosophischem Pathos den neuen Staat verhimmelt, wie er direkt dem Menschen diene und seinem Glücke – pursuit of happiness?, fragt Leroi spöttisch. Der Kommunismus war der größte Hoffnungszerstörer des 20. Jahrhunderts, deklariert Leroi, und ich kann ihm was vom Lebensunglück des Ministers Becher erzählen.

Dann bleibt noch ein Musterknabengedicht von Volker Braun im Gedächtnis. Das die DDR als Projekt feiert, als Unfertiges, als Halbfabrikat – das sollte einerseits die Ungeduldigen kalmieren, erkläre ich Leroi, und anderseits die Dogmatiker tratzen, wenn sie die Errungenschaften des Arbeiter- und Bauernstaates mit fettem Selbstlob herausstreichen. So ist beiden gedient, den Ungeduldigen ebenso wie den Dogmatikern: Stillstand.

Nein, hier zeichneten sich nirgends Spurenelemente eines unverwechselbaren Idioms ab, das sich irgendwann mal zu so etwas entwickeln könnte wie dem Blues, Leroi war enttäuscht. Not with a bang but with a whimper ging die DDR unter; man hört’s bis in dies Nölen hinein, ein unabschließbarer Beschwerdebrief.

Da nahmen sich am Nachmittag die USA doch anders aus: mit Edwin Torres, Performance-Poet, Migrationshintergrund Puerto Rico – eine Nacht später hat er mit seinem Confrère Saul Williams Spoken Word Poetry vorgetragen, die fließende Übergänge zum Rap eröffnet (aber dafür sind Leroi und ich, ältere Herren, schon zu müde).

Vor allem präsentierte sich aber am Nachmittag vor den DDR-Beschwerden Rita Dove, poet laureate der Vereinigten Staaten, von Ron Winkler, aus Erfurt gebürtig, eifrig und produktiv befragt. Ich verschwieg Leroi, wie ich sie beneide, die Amerikaner, um die soziale Kompetenz in solchen Situationen, gleich hörten wir ihr aufmerksam zu, voller Wohlwollen.

Schwarze Mittelklasse. Viele Bücher im Haus, bei denen sich das Mädchen frei bedienen durfte. College und Universität, keine Frage – aber ihresgleichen sollten doch Arzt oder Anwalt oder Lehrer werden, um die Sache der African Americans zu fördern? Dass sie Dichterin werden wollte, wie sie erst langsam herausfand, musste Vater feierlich vorgetragen werden. Ich verstehe nichts von Poesie, antwortete Vater ernst und zögernd, du darfst also nicht traurig sein, wenn ich deine Gedichte nicht lesen werde?

Sie las ein Preisgedicht vor auf die öffentliche Bibliothek im Maple Valley, in der das Mädchen sie genuss- und erfolgreich zu durchwandern lernte, die Landschaften der Bildung. Heimkehrend liest sie auf einer Bretterwand als Graffito: Ich kann einen Elefanten essen, wenn ich kleine Happen nehme – ja, sagte sich das Mädchen, genau das werde ich tun. Kein Zweifel, so saß sie vor uns.

Tags drauf hat Rita Dove dies Gedicht auf den Segen der Bildung für Aufsteiger noch einmal vortragen, zum Nationalfeiertag der US of A. Da treten auch Claudia Keelan auf und Sherwin Bitsui, ein Navajo, und John Yau, Migrationshintergrund China. Der Navajo bekommt den meisten Beifall, klar, treu hängt der deutsche Kulturbürger am Indianer als edlem Wilden. Einer fragt spitzig, wie das denn nun sei mit dem Nationalfeiertag? Vor einem Jahr, verrät Rita Dove strahlend, hätte sie die Einladung, aus diesem Anlass hier zu lesen, abgelehnt – heute ist es ihr eine Ehre und Freude.