Eine List der Vernunft

Die Spanier stimmen über die Europäische Verfassung ab – doch eigentlich geht es um baskischen Separatismus. EU-Referenden, so löblich sie sind, laden zum Missbrauch ein

Rot-Grün hat Volksabstimmungen im Angebot, aber eben theoretisch. Stoiber nutzt sie nur taktisch

Der europäische Verfassungsvertrag soll November 2006 in Kraft treten, Litauen, Ungarn und Slowenien haben ihn bereits durch parlamentarische Abstimmung ratifiziert. Zehn Mitgliedstaaten werden per Referendum entscheiden, als erster will Spanien an diesem Wochenende dem Europa der Völker den Weg ebnen. Der könnte aber steinig werden, wenn die Briten nächstes Jahr ihre Zustimmung verweigern, worauf aktuelle Umfragen hindeuten, auch unter Geschäftsleuten, die bisher noch am ehesten für ein europäisches Britannien waren.

Was geschieht dann eigentlich – zerfällt die Europäische Union oder wird sie auch diesen Krisenfall überstehen? Staats- und Völkerrechtler streiten noch über die Frage, wie man eine Union verlassen kann, die vor Inkrafttreten ebendieser Verfassung auch den Staaten kein Austrittsrecht einräumt, die den Vertrag jetzt ablehnen. Und die Meinungsforscher versuchen herauszufinden, ob allein die Vorwegnahme eines möglichen Scheiterns integrationsfreudigen Völkern (wie eben den Spaniern) die Stimmung vermiesen könnte. Denn wozu einem europäischen Fortschritt zustimmen, den nicht nur die Briten, sondern zuvor auch Polen und Tschechen, vielleicht sogar die Franzosen zunichte machen können?

Referenden hängen generell stärker von Stimmungen ab als Parlamentsvoten, denen ein langwieriger Aushandlungsprozess und Koppelgeschäfte vorausgehen. Der spanische Ministerpräsident José Luis Rodriguez Zapatero geht mit einer Volksabstimmung deshalb ein größeres Risiko ein als sein deutscher Amtskollege Schröder. Deswegen haben viele Befürworter einer politischen, nun auch konstitutionell vertieften Union gewarnt, die Abstimmung den Völkern Europas vorzulegen, was man bis zum Maastricht-Vertrag ja auch tunlichst vermieden hatte. Europäischer Rat und EU-Kommission mögen frei nach der berühmten Demokratieformel Abraham Lincolns government for the European people sein, aber gewiss sind sie kein government of the people.

Gegen diese Vorenthaltung von Volkssouveränität spricht die Bedeutung einer Verfassungsgebung, für deren Fundierung man direktdemokratische Verfahren einsetzen kann, wo immer die nationale Verfassung dergleichen erlaubt. Der Vorgang ist eigentlich zu bedeutend, als dass man ihn hinter dem Rücken der Europäer durchziehen könnte, und was soll eine EU-Verfassung wert sein ohne die Zustimmung des europäischen Demos (im Aufbau)?

Andererseits gibt es genau dieses Volk derzeit nicht, während seine plebiszitäre Simulation elementare Prinzipien nationaler Volkssouveränität aushöhlt. Denn was sollen die Spanier oder Deutschen anfangen, wenn Briten und Polen sie Monate später im Regen stehen lassen? Und wer hindert finanzkräftige Sponsoren der Euro-Skeptiker daran, in einem fremden Land eine gezielte Nein-Kampagne anzuzetteln, damit das ganze Kartenhaus der europäischen Integration einstürzt?

Prinzipiell wäre es also geboten, das Volk einzubeziehen, aber die Verwirklichung dieses Prinzips weist so viele Unwägbarkeiten und Widersprüche auf, dass die gute Absicht unterlaufen werden könnte. Denn überall stehen nationale Sichtweisen im Vordergrund, und jedes Referendum kann von der Abstimmung über eine Sache leicht in ein Scherbengericht über eine Person verkehrt werden.

Jedes Referendum kann leicht in ein Scherbengericht über eine Person verkehrt werden

Charles de Gaulle, der das Personalplebiszit meisterlich anzuwenden verstand, ist 1969 darüber gestürzt, und das könnte auch seinem Nach-Nachfahren Jacques Chirac passieren, wenn die Mehrheit der Franzosen ihm trotz ihrer eigentlich proeuropäischen Einstellung einen Denkzettel verpassen oder aufs Altenteil schicken wollen.

„Freunde“ in der eigenen Partei arbeiten bereits daran, auch die linke Opposition, angeführt durch die CGT-Gewerkschaft, wittert eine Chance. So steht in vielen Ländern nicht die EU-Verfassung (die im Übrigen kaum jemand kennt) zur Abstimmung, sondern eine kurzatmige nationale Agenda: In Spanien dient „Europa“ als Absage an den baskischen Separatismus, in Polen ist es Katalysator für ein neues Parteiengefüge, in Italien steht die Abrechnung mit Regierungschef Berlusconi an – und so weiter.

Nicht Geist und Buchstabe der Verfassungsvertrages, der ein europäisches Grundgesetz darstellen könnte, stehen zur Debatte, sondern ein mehr oder weniger vages Verständnis davon, was Europa symbolisiert: Für die Briten, die keinen Zoll ihrer Parlamentssouveränität und Rechtshoheit aufgeben wollen, geht es um eine Freihandelszone mit sicherheitspolitischem Aktionsradius, welche die „neutralen“ Iren und Österreicher auf jeden Fall vermeiden wollen. Für die Franzosen und Deutschen steht der EU-Beitritt der Türkei im Zentrum, der in Polen und Spanien kaum jemanden Interessiert, wo man sich an Amerika oder Russland abarbeitet und wissen will, wie Europa es künftig mit dem Maghreb oder mit der Ukraine hält.

Auch in Deutschland, wo zähe, aus der Wahrnehmung der daran angeblich gescheiterten Weimarer Republik genährte Aversionen gegen Volksabstimmungen bestehen, hat es parlamentarische und außerparlamentarische Initiativen gegeben, die EU-Verfassung durch das Volk abstimmen zu lassen. 60 Abgeordnete des Deutschen Bundestages und eine elektronische Petitionskampagne von Campact.de und Mehr Demokratie mobilisierten dafür, nach der verpassten Chance von 1990, als das Grundgesetz per Staatsvertrag auf das vereinte Deutschland übertragen wurde, nun die europäische Verfassung direkt abstimmen zu lassen.

Wozu einem Fortschritt zustimmen, den nicht nur die Briten zunichte machen können

Diese Vorstöße wurden erneut vertagt: Rot-Grün hat Volksabstimmungen im Angebot, aber eben nur theoretisch, und der bayerische Ministerpräsident Stoiber zieht die Karte des Plebiszits nur, wenn sie ihm taktisch ins Spiel zu passen scheint. Skeptiker werden damit bestätigt: Auch bei uns würde man wohl die Verfassung zur Abstimmung stellen und in Wirklichkeit über das Ansinnen der Türkei abstimmen lassen – und über Schröder.

So ist das mit dem europäischen Demos: Der Geleitzug, der am Sonntag in Madrid ins Rampenlicht der europäischen Öffentlichkeit tritt, verschwindet immer wieder in den Niederungen und Tunneln der nationalen Provinzen. Ob er am Ende in Europa ankommt, ist dieses Mal fraglicher als je zuvor. Andererseits könnte die Vielstimmigkeit Europas auch eine List der Vernunft sein: Je nationaler sich die Völker gerieren, umso mehr Europa könnte werden. Dafür müssten sich die Europhilen in Madrid, London und Warschau allerdings etwas geschickter anstellen. CLAUS LEGGEWIE