Flanieren an gefährlichem Ort

Der Hermannplatz steht auf der polizeilichen Liste der „gefährlichen Orte“. Wer sich aufhält, macht sich verdächtig. Dabei wäre der Platz zum Flanieren geeignet. Auf dieser Bühne wird Alltag geboten

VON WALTRAUD SCHWAB

Am Hermannplatz ist Ankommen wohl möglich, nicht aber Bleiben. Letzteres ist auch nicht erwünscht. Wer sich aufhält, macht sich verdächtig. Dies deshalb, weil der Hermannplatz, auf der Liste der „gefährlichen Orte“ der Polizei steht. So wird es vermutet, denn öffentlich ist das Verzeichnis nicht. Niemand weiß, wo genau das Verweilen in Berlin zum Tatbestand wird.

Flanieren hingegen ist noch möglich. Solange zumindest, wie es unter Passieren fällt. Solange also, wie ein Fuß vor den anderen gesetzt und so getan wird, als ob es ein Ziel gäbe. Ein anderes als jene Stadtstreicher es haben, die unten in der U-Bahn auf den alten Holzbänken herumlungern. Zu betrunken, um sich ihrer Gegenwart sicher zu sein, schreit die grauhaarige Frau den Kollegen mit der Irokesenpracht auf dem Kopf an: „Setz dich.“ Er aber bleibt stehen. Da schreit sie umso lauter – weil der Alkohol jedoch ihre Zunge lähmt, auch verwaschen und langsam: „Setz dich. Ich sag dir: Setz dich. Hörst du: Setz dich. Du Drecksau, setz dich endlich. Du sollst dich hinsetzen. Setz dich auf deinen Arsch.“ Vor ihr auf dem schwarzen Boden fließt die Bierlache. Ein paar Wachschutzleute mit Hund versammeln sich in der Nähe. Als der Punk sich setzt, weil etwas in ihm ihn nieder drückt, beginnt die Frau zu heulen. „Ich kann jedem befehlen, sich zu setzen, wann ich will“, schluchzt sie. Da fordern die Wachschützer das ungleiche Paar auf zu gehen.

Wer flaniert, wird zum Voyeur. Er beobachtet, greift aber nicht ein. Der Alltag wird für ihn inszeniert. Sein Privileg: nicht dazuzugehören. Sympathisch macht ihn das nicht. Er sieht mehr, weil er in jedem Augenblick nirgendwo sonst sein will als da, wo er ist. Das allerdings ist sein Geheimnis. Heimlich verteidigt er so die Ziellosigkeit am gefährlichen Ort.

Die unterirdischen Bahnhöfe ziehen beim Flanieren am Hermannplatz an. Hier werden Blicke getauscht. Es gilt, den Verweilenden im anderen zu erkennen. Was ist mit jenem, der lässig am Geländer steht, das zu der unteren Plattform führt? Lässt er den einfahrenden Zug weiter ziehen? Wartet er? Sucht er die Augen der Fremden? Spricht sein Blick? Steigen die beiden, die nichts als Augenkontakt hatten, danach in das gleiche Abteil des nachfolgenden Zuges? Ein Staunen liegt in der Luft. Der Flaneur aber, Nutznießer des Alltags der anderen, an dem er sich nicht selbst zu erkennen braucht, fängt den Blick des Herumstehenden auf und lässt ihn ins Leere laufen.

Wer flaniert, hat Zeit. Er versucht, das Fremde im Gewöhnlichen zu erkennen, folgt ihm wie ein Spion um dann weiter zu schlendern durch die Schächte, über Treppen, den Platz und die Straßen entlang. Oben bummelt er an Schaufenstern vorbei. Auf der einen Seite gehören alle zu Karstadt. Im gleichen Abstand bieten sich Bettwäsche, Männerjackets, Kinderschlafanzüge an. Auf der anderen Seite sind die Läden, die als Insignien des Niedergangs schon eine ganze Weile Berlin adeln: Import-Export, Bestattungsunternehmen, Pfennigladen, Apotheke, McDo- nald’s. Alles ist da und nicht da zugleich.

Präsenz und Abwesenheit in einem, das strahlen auch die beiden vergoldeten Figuren aus, die hoch oben auf einem Sockel mitten auf dem Hermannplatz stehen. Sie rennen und kommen doch nicht voran. Eine Taube sitzt der weiblichen Gestalt auf dem Kopf. Das ganze Denkmal, das an die Partnerstädte von Neukölln erinnert, ist vom Kot der Vögel beschmutzt. „Plakate ankleben verboten“ steht auf dem Sockel.

Im Grunde ist der Hermannplatz nur ein Ort, um sich zu orientieren. Gepflasterte Mittelinsel eines Nadelöhrs, an dessen Stirnseiten sich je drei große Straßen gabeln. Straßen, die schon vor 400 Jahren Rixdorf mit Berlin verbanden. Weil am südlichen Ende ein Wirtshaus war, „Rollkrug“ hieß es, haben die Leute hier angehalten, ihre Fuhrwerke geparkt, haben etwas getrunken, gegessen, sind rumgestanden, haben Neuigkeiten und Waren getauscht, um dann weiter zu ziehen.

Bis heute gilt: Am Hermannplatz ist Stadtgrenze, Treffpunkt, Umsteigestation, keine Heimat. Hilfsbereitschaft gibt es vor allem beim Weitergehen. Eine alte Frau wird von einer jungen über die Straße geführt. „Kommen Sie, ich bringe Sie rüber“, sagt die Junge in blauem Regencape, hakt sich bei der Gebrechlichen unter und zieht sie über die Kreuzung, bevor die Ampel auf Rot springt. Als sie auf der anderen Seite sind, sagt die Alte: „Helfen Sie mir bitte noch über die Urbanstraße.“ Als das geschafft ist: „Jetzt bitte noch über den Damm.“ – „So viel Zeit hab ich nicht mehr“, sagt die junge Frau.

Solche Überstürztheit kennt der Imbissbudenbesitzer am Hermannplatz. „Wenn du es eilig hast, gehe langsam“, hat er deshalb an das Fenster seines Stands geschrieben. Gleichzeitig spricht er so schnell, dass er kaum zu verstehen ist. „Ich habe mir das angewöhnt, weil die Kunden nie Zeit haben“, sagt er. Er böte die beste Wurst weit und breit. Für die Touristen sei die jedoch zu billig. „Kann ja nichts sein bei dem Preis.“ Für die Berliner aber ist sie zu teurer. „Die haben noch nicht mal die paar Groschen, sich das Brötchen zur Wurst zu kaufen“, sagt der Mann hinter der Theke. „Arme Gegend das hier.“

Sein Imbiss ist Interimsheimat. Wie auch McDonald’s drüben an der Straße. Vom Barhocker am Fenster aus entfaltet sich der Hermannplatz wie eine Bühne. Vorne an der Rampe ziehen die Protagonisten vorbei. Lachend oder spuckend, traurig oder telefonierend, müde oder mit federndem Schritt. Dreitagebartoptik, Brusthaaroptik, Stöckelschuhoptik, Kopftuchoptik herrscht vor. Es nieselt. Manche Gesichter sind von Regenschirmen verdeckt. Der der asiatischen Familie ist grün und hat abstehende Ohren, die keinem Zweck dienen außer der Freude.

Ein paar Autos sind am Straßenrand hinter den vorbeiziehenden Menschen geparkt. Im schwarzen Mercedes sitzt jemand. Schon eine ganze Weile. Dann steigt er aus – dick, klein, kompakt – wirft seinen Abfall in den orangefarbenen Mülleimer am Laternenpfahl, auf dem „easy-to-use“ steht und steigt wieder ins Auto. Er fährt nicht weg. Erst als ein Mannschaftswagen der Polizei in der Reihe hinter ihm parkt, verschwindet er. Die Polizisten können jeden Verweilenden am gefährlichen Ort kontrollieren. Ohne Grund.

Hinter der Straße liegt der Platz. An Markttagen stehen dort die Buden. Die grellen Farben der Plastikplanen, die vor Regen schützen, sind der einzige Luxus, den es hier gibt. Abgeschlossen wird die Hermannplatzbühne von Karstadt. Blau beleuchtet ist das Kaufhaus, das vom Fensterplatz aus einer Kulisse gleicht.

Für viele Flanierende ist der Konsumtempel ebenfalls eine Interimsbleibe. Dort können sie herumschlendern, an einem regensicheren Ort. Vorbei an Warenbergen, Naturalienhaufen und am großen Aquarium mit seinen blau-gelben Fischen. Über die Rolltreppen, können Höhen erklommen werden und über Aufzüge Täler. Eine blondierte Frau ist bei der Volière in der Tierabteilung im Erdgeschoss stehen geblieben. Sie streicht dem Graupapagei, 1.250 Euro, über den Kopf und fragt die Blaustirnamazone, 998 Euro, warum sie sie nicht begrüße, wo sie doch täglich vorbeikomme.

Flaneure, Vagabunden und Touristen seien die Nachfolger des Pilgers, meint Zygmunt Baumann, der Philosoph. Weil heutzutage der Werteverfall der Postmoderne gelte, könne als Unterschied nur so viel gesagt werden: Der Pilger machte sich auf den Weg, sich zu finden. Flaneur, Vagabund und Tourist aber ziehen umher, um sich zu verlieren.

Und eine andere Ultima Ratio, die das Flanieren weiter denkt: „Lernt schwimmen!“ So jedenfalls lautet Erich Kästners Rat an seinen Romanhelden Fabian. Der ist untergegangen, nachdem er zuvor ziellos durch die Stadt trieb. Vorbei an Lebenskünstlern und Lebensmüden. Vorbei an Sehnsüchtigen und Drogenabhängigen. Vorbei an Arbeitslosen und Prostituierten. All jenen Menschen also, die, so wird gesagt, magisch angezogen seien vom gefährlichen Ort.