Die Beredsamkeit der Bäume

In lauter Bäumen den Wald erkennen: Hilfe bei der Identifikation der rauborkigen Kaukasischen Flügelnuss oder einer „Russenbuche“ kommt von Harald Vieth, Naturschützer und Autor von „Bemerkenswerte Bäume in Berlin und Potsdam“

VON TOM WOLF

Sonntägliche Passanten äugen verstört. Mit einem Buch vor Augen ins dichte Unterholz des Berliner Tiergartens zu tappen wirkt vielleicht etwas schräg. Von der Bellevueallee kommend, war ich – strikt nach gedruckter Anleitung – ein Stück der Straße des 17. Juni gefolgt, um sogleich wieder links abzubiegen, angestrengt ins Laub äugend, denn jetzt sollte es laut Beschreibung sowieso nicht ganz so einfach werden.

„Nach ca. 70 m sehen Sie rechts von sich im Gebüsch auf etwa gleicher Höhe drei große Eichen.“ Ich war schon den ganzen Weg entlanggefahren und hatte die Bäume vor lauter Wald nicht bemerkt. Das Rad wurde angekettet und noch mal ganz von vorn begonnen. Brav zählte ich die Spazierschritte, 140 etwa mussten es sein, „137, 138, 139 …“, und da waren sie: zwei riesige Eichen und ein kürzlich nach Sturm oder Blitzschlag gekappter dritter Eichenstamm. Fröhlich schritt ich fürbass ins Dickicht.

Traubeneiche Nr. 367, mit rund 300 Jahren die älteste Eiche ihrer Art im ganzen Tiergarten, steht zum Glück noch da, wie die Abbildung im Buch sie zeigt. Ihre kleine Plakette mit Nummer macht sie unverwechselbar. Kerzengrade überragt sie bei 3,85 m Stammumfang auch alle anderen Bäume im Umkreis, denn sie ist nicht nur die älteste, sondern auch die höchste Traubeneiche weit und breit. Ein Wunder, dass dieser gewaltige Baum die Holzknappheit des Luftbrückenwinters überlebte!

Spätestens nun gilt es, den Autor dieses für alle Berliner und Potsdamer Baumfreunde segensreichen Werkes, Harald Vieth, und den Titel zu nennen: „Bemerkenswerte Bäume in Berlin und Potsdam“. Das stabile, auf wasserfestes gestrichenes Papier gedruckte Werk ist – wie man jetzt getrost glauben darf – unterholzerprobt und hält Exkursionsbelastungen locker stand. Als Selbstverleger konnte der Autor, unbehindert durch fremde Sparkonzepte, auf 224 Druckseiten 34 prachtvoll farbig bebilderte „Rundgänge zu über 100 Baumindividuen“ präsentieren.

Harald Vieth, 1937 geboren, ist seit 1952 im Natur- und Umweltschutz aktiv und hat bereits zwei ähnliche, gut verkaufte Kompendien über „Hamburger Bäume“ veröffentlicht. Aus einem riesigen Blätterwald an Baum- und Geschichtsbüchern und aus zahllosen Kilometern eigener Exkursionen schöpfte der Autor sein immenses Baumkulturwissen, das es ihm erlaubt, Stadt- und Naturgeschichte in spielerischer Leichtigkeit miteinander zu verknüpfen. Da Harald Vieth überdies ein begnadeter Erzähler ist, verfügt man mit dem Baumatlas zugleich über packenden Lesestoff zur Siesta im Laub. Die Form des Bauminterviews gilt es hier besonders hervorzuheben. „Ich war zuerst hier!“, sagt etwa Platanus acerifolia empört auf die „menschlich-dumme“ Frage des Interviewers, ob denn eine Vergrößerung ihres freien Bodenbereichs „bei der allgemeinen Parkplatznot“ wirklich nötig gewesen sei. Die „Russenbuche“ von Schloss Cecilienhof in Potsdam erklärt derweil geduldig und beredt die Einritzung eines russischen Wachsoldaten von 1950 in ihrer Rinde. Ausgesprochen schön!

Die Sonne sinkt, als ich die beiden Platanenriesen zwischen Kulturforum und Staatsbibliothek ansteuere, die sich trotzig vor den wesenlosen Glaskästen am Potsdamer Platz erheben. Einer von ihnen, die „Kaiserplatane“, wurde 1850 gepflanzt und war im Krieg mehrfach dem Bombentod nahe. Massive menschliche Bürgerunterstützung rettete den Baum noch in den 1960er-Jahren vor dem Straßenbau. Harald Vieth kommentiert: „Wer sich nicht wehrt (und sei es für Bäume) – der lebt verkehrt!“ Der Platanenveteran ballt stumm dazu die Astknotenfaust.

2003 wurde Harald Vieth vom Bundespräsidenten Johannes Rau zum Neujahrsempfang ins Schloss Bellevue eingeladen und – nicht weit von einer beachtenswerten rauborkigen Kaukasischen Flügelnuss im Englischen Garten entfernt – für seinen unermüdlichen und selbstlosen Einsatz bei Baumrettung und Baumbeschreibung ausgezeichnet. Ob sich der neue Bundespräsident, dessen Name jeden Baum in Furcht erzittern lässt, ebenfalls durch eine schöne Unterstützungsgeste zu den ältesten und tapfersten Hauptstadtbewohnern herablassen wird?

Harald Vieth: „Bemerkenswerte Bäume in Berlin und Potsdam“. Hamburg 2004, ISBN 3-930961-97-0, 23,50 €. Bestellungen direkt bei Harald Vieth, Hallerstraße 8, 20146 Hamburg, Tel. (0 40) 45 21 09. Infos unter www.baumbuch.info