OHNE ARAFAT WÜRDE EIN FRIEDEN IM NAHEN OSTEN IN WEITE FERNE RÜCKEN
: Wehmut vor dem Feind

Plötzlich hat sich der Tonfall verändert. Milliarden von Worten wurden in den letzten Jahren in Israel über Jassir Arafat verloren, doch nicht ein Prozent davon war positiv. Er sei ein durch und durch böser Mensch, ein niederträchtiger Mörder, ein erbarmungsloser Terrorist, ein korrupter Gauner und was alles noch. Er müsse so schnell wie möglich beseitigt (also: umgebracht) werden. Schade nur, dass die Amerikaner es vorläufig nicht erlaubten.

Doch vorgestern, als es so aussah, als ob er jeden Augenblick seinen Geist aufgeben könnte, veränderte sich alles. Schlomo Ben-Ami, der als Außenminister die unselige Losung ausgab, es gäbe „keinen Partner zum Frieden“, sagte nun, Arafat sei „die Seele des palästinensischen Volkes“. Andere, weniger poetisch veranlagt, versuchten, sich eine Welt ohne Arafat vorzustellen. Israelische Linke träumen von einer neuen, „pragmatischen“ palästinensischen Führung, der jetzige Außenminister Silvan Schalom von einer „Führung, die gegen den Terror kämpfen wird“. Man kann ja leicht träumen, wenn man keine Ahnung von der palästinensischen Realität hat.

Die einfache Wahrheit ist, das Arafat der Einzige ist, der die moralische Autorität besitzt, einen Friedensvertrag zu unterschreiben und – was viel wichtiger ist – sein Volk dazu zu bringen, ihn auch anzunehmen. Denn jeder Friede verlangt von den Palästinensern, einige ihrer heiligsten Forderungen aufzugeben – etwa die nach der unbegrenzten Rückkehr von Millionen von Flüchtlingen nach Israel. Man muss wirklich ein Phantast sein, um zu glauben, dass eine „pragmatische“ Führung, die nicht das uneingeschränkte Vertrauen der Bevölkerung genießt, so etwas vollbringen könnte. Und der bloße Gedanke, dass sie imstande wäre, Gruppierungen wie Hamas und Dschihad zu bekämpfen, ist absurd. Man kann annehmen, dass auch Silvan Schalom das weiß und nur versucht, den Boden für seinen Boykott der nächsten palästinensischen Führung vorzubereiten.

Im wirklichen Interesse Israels liegt es, dass Arafat wieder gesund wird. Sogar als Gefangener in Ramallah oder in der Ferne in Paris wird er weiter die Linie bestimmen, von der niemand abzukommen wagt. Die lautet: ein palästinensischer Staat im ganzen Westjordanland und im Gaza-Streifen, die Wiederherstellung der Grenzen vor 1967 (vielleicht mit begrenztem vereinbartem Bodenaustausch), die Evakuierung aller israelischen Siedlungen aus den palästinensischen Gebieten und die Ausrufung Ostjerusalems zur Hauptstadt Palästinas. Wer sich mit weniger abgeben würde, der würde als Verräter abgestempelt; seine Unterschrift wäre wertlos.

Wie jeder große politische Führer hat auch Arafat viele Fehler gemacht: Man muss nur an seine Unterstützung Saddam Husseins im ersten Golfkrieg denken. Aber die Fehler verblassen im Vergleich zu seiner historischen Leistung. Er übernahm die Führung seines Volks vor 44 Jahren, als der Name Palästina so gut wie ausgelöscht war und sogar die Existenz eines palästinensischen Volkes bestritten wurde. Heute steht dieses Volk, trotz allen schrecklichen Blutvergießens auf beiden Seiten, an der Schwelle zur Unabhängigkeit. Das ist zum großen Teil ein Verdienst Arafats, der unermüdlich den Kampf geführt und unzählige Krisen überstanden hat. Wie Moses hat er sein Volk aus der Knechtschaft bis an die Grenze des Gelobten Landes geführt – und jetzt besteht die Möglichkeit, dass er, wie Moses, das Gelobte Land nur von weitem erblicken kann, ohne es je zu betreten.

Das können sich viele Palästinenser nicht vorstellen. Sie sind sicher, dass Arafat auch diesmal überleben wird; schließlich lebt er seit Jahrzehnten in ständiger Lebensgefahr. Kaum jemand hätte einst gedacht, dass er lebend aus Beirut herauskommen würde. Und bei einer Notlandung in der Libyschen Wüste wurden seine Leibwächter getötet, er aber überlebte beinahe unversehrt. Kein Wunder, dass er glaubt, Gott wache über ihn. Darum hat er auch nie einen Stellvertreter ernannt.

Kann das palästinensische Volk auch ohne Arafat überleben? Natürlich. Es ist ein zähes Volk, das sein Dasein unter katastrophalen Bedingen fristet. Aber ohne Arafat wird es viel schwerer sein, einen Frieden zu erreichen. Es könnte sein, dass sich die Israelis noch nach Arafat sehnen werden.

URI AVNERY

Der Autor lebt in Tel Aviv. Er tritt seit 1948 für einen israelisch-palästinensischen Frieden und eine Zweistaatenlösung ein