„Ein Appell an den inneren Schweinehund“

Mit der Debatte um eine Unterschriftenkampagne lenkt die Union von ihren strukturellen Schwierigkeiten ab, sagt der Politologe Peter Lösche

taz: Herr Lösche, die Union erwägt eine Unterschriftenaktion gegen den türkischen EU-Beitritt. Warum gerade jetzt?

Peter Lösche: Dahinter steht ein strukturelles Problem. Die CDU hat bis zur Vereinigung von drei Dingen gelebt: vom christlichen C, von der Macht im Kanzleramt und vom Antisozialismus. Heute ist das hohe C durch die Säkularisierung abgeschwächt, die CDU ist in der Opposition, und den Sozialismus gibt es auch nicht mehr. Die Verlockung ist nun, diese Lücke durch die Mobilisierung von Ressentiments zu füllen.

Wie kann die CDU aus diesem Dilemma ausbrechen?

Das geht nur mit konkreten Reformstrategien, die allerdings auf die eigene Partei abgestimmt sein müssen – und auf die Wähler, die man gewinnen will.

Das hat Angela Merkel übersehen?

Sie hat die CDU als große FDP betrachtet und angefangen, gegen einen Teil der eigenen Klientel Politik zu machen. Als CDU-Vorsitzende kann sie aber nicht zu einer deutschen Maggie Thatcher werden. Dazu ist die Partei zu vielfältig – sozial, ökonomisch, kulturell.

Was ist die Alternative, wenn sich Merkel nicht den Vorwurf der Beliebigkeit einhandeln will?

Darin liegt das Kunststück – eindeutig zu erscheinen und in der Realität doch mehrdeutig zu bleiben. Das Konzept zur Gesundheitsreform ist von oben nach unten durchgedrückt worden. Merkel hat nicht versucht, die Mitglieder mitzunehmen. Erst jetzt wird deutlich, wie geschickt Helmut Kohl darin gewesen ist, bestimmte Dinge erst einmal auszusitzen und abzuwarten, wie sich die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der eigenen Partei entwickeln.

Aber genau das hat man Angela Merkel doch zum Vorwurf gemacht?

Kohl ist darin geschickter gewesen. Er hat an bestimmten Stellen die politische Führung übernommen, und zwar an solchen Stellen, die unumstritten waren. Merkel hat da einfach zu wenig politische Erfahrung.

Neuerdings rechnet die CDU stolz vor, wie stark die Kopfpauschale besser Verdienende belastet. Ist auch das eine Wende zum Populismus?

Das ist ein Versuch, die CDU als soziale Partei dastehen zu lassen. Mich wundert allerdings, warum sie dieses Argument erst jetzt präsentiert. Dass etwa der Chef der Deutschen Bank 40.000 Euro pro Monat an zusätzlichen Steuern bezahlt, das wäre ja sehr einprägsam. Da drängt sich der Verdacht auf, dass Merkel ihr eigenes Konzept zunächst gar nicht begriffen hatte.

Reagiert die CDU auf die Wahlerfolge von NPD und DVU?

Ich glaube nicht, dass die Debatte um die Unterschriftenaktion bewusst geplant war. Das war ein Selbstläufer: Zuerst hat der CSU-Politiker Michael Glos mit dem Vorschlag gespielt, dann sind Merkel und Stoiber aufgesprungen.

Soll das heißen, die Kampagne zielt gar nicht auf das rechte Spektrum?

Sie wirkt sicherlich als Signal an das rechtspopulistische Potenzial, das sich bei den jüngsten Landtagswahlen realisiert hat. Darüber hinaus hat sie für Teile der eigenen Partei und der Wählerklientel einen mobilisierenden Effekt. Zugleich trägt die Aktion aber auch eine neue Spaltung in die Partei hinein.

Passt es denn zur Union, dass sie plötzlich Basisdemokratie praktiziert?

Um die Basisdemokratie geht es der Union gar nicht. Formal gesehen sind die Unterschriften völlig unverbindlich. Die Aktion ist ein Appell an den inneren Schweinehund, nach dem Motto: Wo kann ich hier gegen die Türken unterschreiben? Das haben wir 1999 in Hessen erlebt

Damals hat es doch geklappt?

Aber wir sind heute nicht in der Situation, dass unmittelbar Wahlen bevorstehen. Bis zur Wahl in Nordrhein-Westfalen sind es noch sieben Monate. Hinzu kommt: Die Aufnahme der Türkei in die EU wird erst in 10 oder 15 Jahren aktuell. Es geht um ein Phantomthema. Wenn man eine solche Aktion ernsthaft betreiben will, dann macht man das zu einem anderen Zeitpunkt und nicht jetzt.

INTERVIEW: RALPH BOLLMANN