Richtung Norden für den Osten

AUS ARNEBURG UND GROSS GOTTSCHOWKIRSTEN KÜPPERS

Steffen hockt still im nassen Gras. Es hat zu viel Regen gegeben bis jetzt. Und die Ostsee ist weit, wenn man in einem entlegenen Ort wie Groß Gottschow an der Dorfstraße sitzt und noch den ganzen Weg zu Fuß laufen muss, weil man das in einem Anflug von Übermut allen versprochen hat und beim Abschied Fernsehkameras da waren und der Fleischer Würste spendiert hat als Reiseverpflegung.

Steffen ist blond und schlaksig und zu müde zum Reden. Und dass die Nachmittagssonne jetzt auf Birnbäume und Gartenzäune scheint, hilft nicht viel. Die Beine schmerzen und es ist einer dieser Momente, wo man sich als junger Mensch doch sehr verlassen fühlt von der Welt. Den anderen geht es nicht besser. Vier Tage sind sie jetzt unterwegs. Es hat ein paar Niederlagen gegeben, raunzt Christoph aus seiner Kapuze. Fabian lächelt schief. Marc tut das Knie weh. Klemens knurrt: Hoffentlich müssen wir diese Nacht nicht wieder in einem feuchten Zelt schlafen. Sie sind nicht einfach so losgelaufen. Es hat in einer Kneipe in Stendal angefangen. Fünf Jungs in Jeans und Turnschuhen, zwischen 21 und 22. Sie kommen nicht mehr oft zusammen, Steffen studiert in Dessau, Marc in Berlin, Fabian in Magdeburg und Klemens in England. Aber an jenem Wochenende saßen sie daheim in der Kneipe und tranken. Die Idee kam zwischen zwei Bieren. Jetzt laufen sie zu Fuß an den Ostseestrand in Rostock-Warnemünde, 30 Kilometer am Tag, in einer Woche wollen sie es schaffen, auf kleinen Straßen und Feldwegen. So wie früher auch die jungen Männer ans Meer gelaufen sind, um auf einem Dampfer anzuheuern, weil es in der Altmark keine Arbeit gab.

Die Zeiten sind nicht mehr so, dass auf einem Schiff die bessere Zukunft wartet. Steffen und die anderen wollen also nur laufen und protestieren. Was gibt es denn in unserem Landkreis an beruflichen Perspektiven für junge Leute?, fragt Christoph. Man muss weg, wenn man eine Arbeit will. In den Westen, ins Ausland. Überall ist es besser als in Sachsen-Anhalt in der Altmark.

Ein Hund bellt. Unter den Birnbäumen surrt eine Rentnerin im elektrischen Rollstuhl vorbei. Bevor sie losgelaufen sind aus Stendal hat Christoph Briefe geschrieben. An den Bürgermeister, an die Parteien im Stadtrat. Es hat keiner geantwortet. Nur der Veranstalter von einer Montagsdemo hat angerufen, Christoph hat ihn abgewimmelt: Wir lassen uns doch von dem nicht vor den Karren spannen.

Jetzt haben die Füße Blasen, die Regenjacken muffeln, die Würste sind alle. Aber wahrscheinlich ist das immer noch ein besseres Abenteuer als die Schwere, die über einen fällt, wenn man in Stendal sitzt und wartet, was kommt. Wenn man auf leere Plattenbauten guckt und den Getränkekiosk.

Vor der Wende hatte Stendal eine Konservenfabrik, ein Fleischkombinat, eine Halle für Schwermaschinenbau, ein Reichsbahnausbesserungswerk und eine Stahlmöbelfabrik. Das Atomkraftwerk sollte bald fertig werden. Für die Wochenenden stand ein Kulturhaus mit Bowlingbahnen bereit.

Von der Industrie ist nichts geblieben, das Atomkraftwerk ging nie in Betrieb, zum Bowling geht heute keiner mehr. Die Stadt stirbt, sagt Klemens, er dreht den Kopf und spuckt ins Feld. Bei den Leuten ist das Meckern mittlerweile irgendwie zur Mentalität geworden, ruft Christoph. Er kickt mit dem Fuß einen Stein weg. Er ist richtig sauer jetzt.

Es mag am Nieselregen liegen, der oft über der Gegend hängt. Vielleicht versperrt auch Resignation den Blick der Menschen in der Altmark. Aber 20 Kilometer nordöstlich von Stendal, im Industriegebiet von Arneburg, neben den Betonresten des demontierten Atomkraftwerks, steht etwas Großes. Etwas, das Zuversicht bringen könnte. Es ist das neue Zellstoffwerk. Schon von Ferne sind die fauchenden Schlote in der flachen Landschaft zu erkennen. Eine schwere Fabrik, umschlungen von Rohrleitungen und Transportbändern. Lkws fahren lange Baumstämme durch die Pforte, Gabelstapler schnurren an weiten Lagerhallen vorbei. Die Betriebsamkeit riecht nach Holzspan. Männer und Frauen in Gummistiefeln und blauen Latzhosen traben heran, heben die Hände: Mahlzeit!

Drinnen in der Fabrik auf der Etage der Geschäftsführung sitzen ein stolzer Direktor und ein zufriedener Personalchef in einem hellen Büro. Die beiden wollen eine andere Geschichte von Stendal erzählen. Die Geschichte handelt von unternehmerischem Risiko, von Erfolg und Arbeitsplätzen. Sie geht ungefähr so:

An einem kalten Tag im Januar 2000 stand Wolfram Ridder, eine ehrgeizige, junge Führungskraft des US-kanadischen Konzerns Mercer International, frierend im Matsch. Er stapfte durch die kaputten Rückstände eines stillgelegten Atomkraftwerks. Genau hierher, entschied Ridder, sollte sein Konzern das modernste Zellstoffwerk der Welt bauen. Die Brache bei Stendal eignete sich. Es gab Platz. Es gibt eine Verkehrsanbindung an Schienen, an Straßen, an die Elbe. Und es gab eine verzweifelte Landesregierung, die für die Schaffung von Arbeitsplätzen bereit war, viel Geld zuzuschießen. Es herrscht immer noch ein großer Pioniergeist in der Regierung von Sachsen-Anhalt, umschreibt Wolfram Ridder heute dieses Entgegenkommen. So etwas im Westen zu machen, wäre unmöglich gewesen. Wirklich – wir sind hier mit großem Interesse begrüßt worden.

Es hat Schwierigkeiten gegeben. Ridder hat heute ein fahles Rauchergesicht, seine Frau und die beiden Kinder haben ihn wenig gesehen in den letzten Jahren. Die EU musste die Fabrik genehmigen. Es war nicht immer einfach. Während des Elbehochwassers wollte keine Versicherung die Deckung übernehmen, obwohl es im Arneburger Industriegebiet keine Überschwemmungen gab. Eine Milliarde Euro hat das Werk schließlich gekostet. Das Land Sachsen-Anhalt, der Bund und die EU gaben 250 Millionen dazu. Damit ist die Fabrik eines der größten Investitionsprojekte Ostdeutschlands. Die Maschinen laufen jetzt im Probelauf. Zellstoff wird aus Holz gewonnen. Er ist der Rohstoff für Papier, Pappe, Taschentücher. 550.000 Tonnen Zellstoff will die Stendaler Fabrik im Jahr herstellen. Damit wird sie den Ausstoß der deutschen Zellstoffindustrie auf einen Schlag um die Hälfte steigern.

14.000 Bewerbungen lagen bei Personalchef Peter Grochalski im vergangenen Jahr auf dem Schreibtisch. Und daran kann man schon sehen, dass die Menschen in der Region jede Chance nutzen, die sich hier bietet. Sogar eine nach Südamerika ausgewanderte Stendalerin hat sich beworben.

Peter Grochalski ist 52 Jahre alt und ein stämmiger Kerl. Seine hessische Sprachfärbung hat er sich auch nach diversen unternehmerischen Exkursionen als Schuhverkäufer in Italien und Personalberater in den USA und Leipzig bewahrt. Grochalski schaukelt breit in seinem Stuhl und erzählt: 580 Personen hat er ausgewählt, darunter 17 Azubis. Man habe vor allem Bewerber aus der Region genommen. Denn die technische Grundausbildung der Menschen im Osten ist nach wie vor erheblich besser als im Westen. Und mit dem gönnerhaften Lächeln des Westdeutschen, der sich gerne des Klischees bedient, wenn es ihm nutzt, bemerkt Grochalski: Die Ostdeutschen sind kreativ. Die haben nix gehabt und was draus gemacht.

85 Prozent der Belegschaft pendeln nun aus dem Umkreis von 60 Kilometern in das Werk. Im Oktober wird es offiziell in Betrieb genommen. Es wird eine große Feier geben. Sogar der Kanzler soll kommen.

Und das ist noch nicht das Ende. In der Kantine gibt es Schweinshaxe, Grochalski will einen Teller. Aber vorher möchte er noch einen schönen Satz loswerden: Wir sehen unser Werk nur als Leitinvestition. Weitere Produktionsschritte könnten sich ansiedeln. Sein Chef nickt. Eine Papierfabrik vielleicht, meint Ridder. Er drückt seine Zigarette aus. Die Geschichte klingt gut. Selbst einer wie Bernd Wehrman scheint sie zu glauben.

Wehrmann sitzt in einem Raum über der Feuerwehrgarage. Der Sicherheitsingenieur ist ein hagerer Mann mit strähnigem Haar. Er kennt das Gelände, 55 ist er jetzt. Früher hat er im Atomkraftwerk gearbeitet. Er hat die Abwicklung miterlebt und die Versuche danach. Zu tausenden seien sie gekommen, die Geldwäscher und Glücksritter, sagt Wehrmann. Eine Biodieselfabrik, ein Gummirecyclingbetrieb, eine Aufzugfirma. Wehrmann hat zugesehen, wie Ideen scheiterten. Und die neue Fabrik? Es läuft, brummt Wehrmann. Weil das noch nicht gut genug klingt und weil die Pressesprecherin des Chefs zuhört und in ihm ja auch die Dankbarkeit des 55-Jährigen steckt, der in einer Region mit 20 Prozent Arbeitslosigkeit noch einen Job gefunden hat, schickt Wehrmann hinterher: Wir Arbeiter sind hier alle mit großem Enthusiasmus dabei.

Im Zellstoffwerk mag die Begeisterung groß sein. Angekommen ist sie in Stendal und dem Umland noch nicht. Sie ist kein Grund dazubleiben. Fünf Jungs kauern in Regenjacken an der Dorfstraße von Groß Gottschow, die Zäune am Straßenrand rosten, ab und zu knattert ein Traktor über das Pflaster. Zehn Kilometer wollen die Freunde heute noch weiter Richtung Ostsee. Weil eine Zellstofffabrik mit 580 Arbeitsplätzen nicht reicht. Christoph meint: Ich trau der Sache nicht.

Er kennt ja die Verhältnisse. Ein paar Mal hat es in den letzten Jahren in den verlassenen Betonhallen des Atomkraftwerks Diskos gegeben. Die waren nicht schlecht. Aber im letzten Winter hat Christoph auf der Baustelle des Zellstoffwerks Rohre isoliert, in der Kälte. 14 Tage sollte man auf Probe arbeiten, hieß es von der Baufirma. Umsonst. Christoph zischt durch die Zähne. Danach sollte es 4,50 Euro Stundenlohn geben. Er hat es nur einen Tag ausgehalten. Sein Vater habe es auch probiert, fährt Marc dazwischen. Der Vater ist gelernter Bauarbeiter. Weil er arbeitslos war, hat er sich beim Zellstoffwerk beworben. Er wurde nicht genommen. Und das sind doch schon genug Gründe zum Misstrauischsein. Marc lehnt sich in seine Kapuze, die anderen schweigen, in den Wiesen faulen die Birnen. Irgendwann stemmt sich Steffen hoch, sie müssen weiter. Heute noch zehn Kilometer. Sie müssen diesen Protest jetzt durchhalten. Daheim warten die Freundinnen. Und der Fleischer, der die Würste spendiert hat.