„In einer Art Darwinismus“

Imtendant Michael Schindhelm über die Bühnenszene in Thüringen: „Ich finde die Sehnsucht nach der ordnenden Hand des Staates begreiflich“

taz: Herr Schindhelm, zum ersten Mal seit langem wird in Deutschland wieder ein neues Theater eröffnet. Können die Kulturschaffenden, die seit Jahren über „Kulturabbau“ klagen, jetzt aufatmen?

Michael Schindhelm: Der Bau von Theatern vollzieht sich nach einer anderen Logik als die Nöte des Theaterbetriebs selbst. Wenn Sie sich ansehen, wie viel Geld seit der Wende in die Sanierung von Theatergebäuden geflossen ist, kommen Sie allein für Thüringen auf einen dreistelligen Millionenbetrag. In die Hardware wird also investiert, nicht nur in Erfurt. Gespart wird an der Software, also am Menschen.

Warum?

Die Lobby für das Bauwesen scheint größer zu sein als die Lobby für die Kunst. Das Wort „Investition“ löst bei deutschen Politikern ungeheure Fantasien aus. Geht es um die Kosten des laufenden Betriebs, denken sie sehr viel restriktiver. Das muss nicht unbedingt falsch sein. Anfang der Neunzigerjahre war die Frage durchaus berechtigt, wie man die Kosten vor allem des ostdeutschen Theaterbetriebs in den Griff bekommt. Aber heute stehen wir vor der großen Gefahr, dass wir unsere Theatergebäude zwar herausputzen, dass darin aber nichts mehr stattfindet.

In Thüringen gab es nach der Wende insgesamt acht Mehrspartentheater. Das sind genauso viele wie in der ganzen Schweiz, die zweieinhalbmal so viele Einwohner hat. Ist diese Theaterlandschaft langfristig zu halten?

Sicherlich nicht. Schon heute stehen mehrere Häuser vor der Frage, wie lange sie mit ihren jetzigen Subventionen überhaupt noch durchhalten können. Als die Kultur im Osten Anfang der Neunziger großzügig subventioniert wurde, hat man von einer „finanziellen Bedenkzeit“ gesprochen. Die Millionen sind zwar geflossen, aber nachgedacht wurde nicht allzu viel. In einer Art Darwinismus haben sich die renommierten Theater in Weimar und Meiningen noch am besten behauptet.

Und wie geht es weiter?

Auf längere Sicht sind weitere Fusionen in Thüringen gar nicht vermeidbar, Schließungen wohl auch nicht. Wir können hier das paradoxe Phänomen beobachten, dass die Ärmsten gleichzeitig die Reichsten sind. Während die reiche Schweiz über Kürzungen bei der Hochkultur diskutiert, leistet sich das wirtschaftsschwache Thüringen die höchsten Subventionen pro Theaterkarte. Das ist doch eine schöne Absurdität: Es zeigt, dass die Kultur andere Wege geht als die Rationalisierer von McKinsey.

Die Subventionen pro Karte sind in Thüringen am höchsten, weil von diesen Karten nur wenige verkauft werden. Wenn das Interesse am Theater so gering ist, hat es dann noch einen Sinn?

Auch wenn beispielsweise das Nordhäuser Theater derzeit nicht so viele Zuschauer hat, ist es trotzdem ein bunter Fleck in einer ansonsten sehr monochromen Landschaft. Wenn diese Farbe einfach weggewischt wird, dann fällt mir dazu nur noch Heiner Müller ein: In Deutschland werden weiße Flecken immer relativ schnell braun.

Wollen Sie im Ernst behaupten: Wo das Theater geht, kommen die Nazis?

Natürlich ist das Argument sehr holzschnittartig. Aber die Realität ist oft auch brutal. Wenn etwas ausradiert wird, entsteht zunächst einmal Leere. Und wer in diese Leere hineinschießt, das konnten wir in den Neunzigern vielerorts beobachten. Das mag nur eine Minderheit sein. Aber sie besetzt den öffentlichen Raum. Das ist die Erfahrung der letzten zehn Jahre, speziell in Ostdeutschland: Wenn es nicht der Staat tut, dann wird es jemand anderes tun.

Ist das nicht sehr einfach argumentiert: Der Staat soll es richten?

Es stimmt: Der Ruf nach dem Staat war im Osten nach der Wende besonders laut. Aber heute muss man darüber differenzierter reden. Die großen Hoffnungen, der Markt werde es schon richten, sind doch einigermaßen zerstoben. Da finde ich die Sehnsucht nach einem ordnenden Staat schon wieder begreiflich.INTERVIEW: RALPH BOLLMANN