Jung an Jahren, reich an Erfahrung

Sandra Avocé, 16, aus Benin reist als Delegierte nach Berlin. Sie war vor Jahren selbst Kinderarbeiterin

COTONOU taz ■ Vor sechs Jahren dachte Sandra Avocé, sie habe ungewöhnliches Glück. Eine Frau bot der damals Zehnjährigen an, sie mit nach Gabun in Zentralafrika zu nehmen. Sandra kannte bis dahin nur das karge Leben ihrer Familie in Benins größter Stadt Cotonou: Ihr Vater verdingte sich als Tagelöhner auf Baustellen, die Mutter verkaufte auf der Straße Maisbrei. Das Geld der Familie reichte gerade für eine Grundschulausbildung der vier Kinder.

Sandras Eltern waren anfangs gegen die Reise. Aber Sandra beharrte auf ihrem vermeintlichen Glück und reiste die tausend Seemeilen nach Gabun. Was sie in dem verhältnismäßig reichen Ölland erwartete, war Ausbeutung in Reinkultur. Die Zehnjährige arbeitete zwanzig Stunden täglich im Haushalt der Frau, die sie aus Benin geholt hatte: Morgens um fünf Wasser holen, mehrmals täglich für die Familie und deren Gäste kochen, putzen, Wäsche waschen, Kinder hüten. Und das bis spät in die Nacht. Gefiel der Pflegemutter etwas nicht, wurde Sandra geschlagen – noch heute trägt die klein gewachsene junge Frau Narben auf ihrer dunklen Haut. Der ihr versprochene Schulbesuch fand nie statt.

Nach einem Jahr hielt es Sandra nicht mehr aus. Sie lief weg und versteckte sich einige Wochen bei anderen Kindern, die Ähnliches wie sie erlebt hatten. Später nahm sich ein beninischer Mann des Mädchens an und brachte sie zurück zu ihrer Familie.

Viele der schätzungsweise 200.000 Kinder, die jedes Jahr in der westafrikanischen Region wie Ware verschickt werden, erleben bei ihrer eventuellen Rückkehr dann ihr zweites Trauma. Die Familie nimmt sie nur ungern wieder auf, weil sie den ohnehin knappen Haushalt zusätzlich belasten. Zudem können die Kinderhändler Rückzahlungsansprüche stellen, wenn das Kind vor der vereinbarten Zeit zurückkehrt.

Sandra hatte Glück: sie wurde von ihrer Familie mit offenen Armen wieder aufgenommen. Nach ihrer Rückkehr half sie der Mutter ein Jahr lang im Straßenverkauf, dann erfuhr sie vom Kinderausbildungsprojekt A.A.S.S.E.E. in Cotonou. Die „Soziale Aktionsgruppe für das Überleben und Entfalten der Kinder“ bildet jährlich fünfzig Jungen und Mädchen aus. Binnen drei Jahren werden sie zu Zimmerleuten, Schneiderinnen oder Technikern – kostenlos. Zweihundert Kinder haben bislang die private Bildungseinrichtung durchlaufen. Etwa ein Fünftel der Lehrlinge brechen die Ausbildung aus privaten Gründen ab – meist wegen Schwangerschaft oder Umzugs.

Vier von fünf Auszubildenden sind Mädchen. Viele hätten zuvor auf Gemüsefarmen geschuftet, berichtet der Leiter der Einrichtung, Cyprien Yanclo. Zusammen mit rund zwei Dutzend anderen Erwachsenen hat er A.A.S.S.E.E. aufgebaut. Das Projekt wird von Unicef, einer kanadischen Stiftung und Privatspenden finanziert. Aber Geld, sagt Yanclo, sei natürlich weiter knapp und der Bedarf alleine in Cotonou, der größten Stadt des Sechs-Millionen-Einwohner-Landes, lange nicht gedeckt.

Dieser Tage hat Sandra Avocé ihre Ausbildung zur Friseurin beendet. Nun muss sie nach den Statuten der Schule noch ein Jahr ihr Wissen an Jüngere vermitteln. Erstmals in ihrem noch jungen, aber bereits langen Arbeitsleben hat Sandra wirklich etwas gelernt. Als Absolventin und Lehrerin braucht die 16-Jährige nun nicht mehr die ockerfarbene Schuluniform zu tragen, sondern kann ein buntes Kleid anziehen und sich schminken. Ihre schwere Vergangenheit ist ihr nicht mehr anzumerken.

Die Räume des A.A.S.S.E.E. nutzt Sandra Avocé auch für andere Treffen. Eigentlich ist sie schon eine Funktionärin auf ihrem Gebiet. Denn Sandra engagiert sich ehrenamtlich für Kinder und Jugendliche, die in einer ähnlichen Lebenslage sind, wie sie einst war. Als Präsidentin der Vereinigung für arbeitende Kinder und Jugendliche (AEJT) in Benin reist sie regelmäßig auf Kinderarbeiterkonferenzen in den Senegal und sogar bis nach Äthiopien, Sitz der Afrikanischen Union. In dieser Funktion bekam sie nun auch die Einladung zum 2. Welttreffen arbeitender Kinder und Jugendlicher in Berlin Mitte April.

Von dem zweiwöchigen Treffen erwartet sie sich vor allem Informationsaustausch: Wie fahren andere ihre Kampagnen gegen Kinderarbeit? Mit welchen Problemen haben sie zu kämpfen? Zugleich möchte sie ihre Erfahrung als Aktivistin gegen Kinderarbeit weitergeben. In acht Regionen von Benin ist ihr Verband vertreten. Sandra schätzt, dass mehr als 1.000 ihrer Altersgenossen in der AEJT organisiert sind. Sämtliche Posten sind von Kindern und Jugendlichen besetzt. Ihnen bleibt noch viel zu tun. HAKEEM JIMO