Wissenshunger im Wedding

Zu den Vorlesungen für Kinder, die als Massenspektakel Schlagzeilen machen, gibt es im Labyrinth Kindermuseum im Wedding noch die passenden Seminare. Kinder aus bildungsfernen Schichten werden dazu geladen. Erkenntnisse gewinnen nicht nur sie

VON WALTRAUD SCHWAB

Im hintersten Wedding erhält das Erfolgsmodell „Kinderuni“ ein zweites Standbein. Nicht mehr nur Vorlesungen vor ein paar hundert Kindern werden geboten, das „Labyrinth Kindermuseum“ in der Osloer Straße bietet die dazu passenden Workshops an. Hier sitzen die Professoren mit Kindern an einem Tisch und müssen den direkten Kontakt zu ihnen suchen. Das Kindermuseum lädt dazu bewusst Schüler und Schülerinnen aus bildungsfernen Schichten ein, wie die Sprecherin Gabriele Mittag betont.

Zum Seminar „Warum werden nicht alle Menschen auf der Erde satt“, das der Agrarwissenschaftler der Humboldt-Universität Uwe Jens Nagel hält, kommen vor allem Kindern aus dem Frisbee-Jugendzentrum im Soldiner Kiez – jener Ecke Berlins, die seit Jahren Ghetto-Schlagzeilen macht. Dem Professor gegenüber verhält sich die etwa 20-köpfige Gruppe, in der alle einen Migrantenhintergrund haben, auffallend zurückhaltend. Später stellt sich heraus, dass die echten Rabauken bewusst nicht mitgenommen wurden.

Die Professoren, die Vorlesungen für Kinder abhalten, sind den Kindern gegenüber vorsichtig geworden, seit die Uni-Premiere im Januar im Radau der fast 1.000 jungen Neugierigen unterging. Eigentlich wollte der Philosoph Volker Gerhardt der Frage „Warum wollen wir so viel wissen?“ nachgehen. Die Wissenschaftler aber hatten ihre neue Kundschaft vorab nicht richtig eingeschätzt. Sie hatten kleine Tausendsassas erwartet. Wenn auch nicht so Altkluge wie jenes Mädchen, das, so kolportiert es Nagel, nach der Premiere zum Dozenten ging und ihn fragte, warum er behaupte, dass Wissen unendlich sei, wo doch Aristoteles gesagt hat: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

Ganz anders im Kindermuseum. Hier bleiben die Kinder an den Fragen des Professors dran. Er erörtert, warum es in manchen Ländern wie Deutschland möglich ist, so viel Nahrung zu produzieren, dass ein Bauer 128 Leute satt machen kann, in Afrika aber ein Bauer es kaum schafft, selbst satt zu werden. „Wir“ im Kontrast zu „den anderen“ – so baut Agrarwissenschaftler Nagel seinen Workshop auf. Ein Bild von Kindern in Laos wird gezeigt. Satt sind sie, wenn sie dreimal am Tag Reis essen, wird erklärt. „Ich würde kotzen, wenn ich immer nur Reis essen müsste“, sagt ein Junge.

Der Professor bündelt das vorhandene Alltagswissen der Kinder. Denn dass Boden, Saatgut, Arbeitskraft, Wasser und Sonne notwendig sind, damit etwas wächst, dass wissen alle. Auch dass Hunger etwas mit Armut zu tun hat und dass Armut entsteht, wenn Leute keinen Zugang haben zu dem, was notwendig ist, damit Nahrungsmittel angebaut werden können, wissen sie. „Wenn die nicht genug Wasser haben, gehen die dann auf den Berg und holen Schnee?“, will ein Mädchen wissen.

Durch den Professor geschickt gelenkt, entwickeln die Kinder nicht nur landwirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Zusammenhänge zwischen Hunger und Naturkatastrophen, Krieg oder Vertreibung, Verslumung und Zugang zu Wissen. „Sind die Lehrer in armen Ländern auch schlau?“, fragt einer der Schüler.

Am Ende sind alle erschöpft. Die Kinder und der Agrarwissenschaftsprofessor, dessen Institut bekanntermaßen abgewickelt werden soll. „Es ist wichtig, dass die Universität sich öffnet“, meint er. „Dass man mit den Unis politisch machen kann, was man will, das hängt damit zusammen, dass sie in der Gesellschaft so schlecht verankert sind“, sagt Nagel. Selbst Professoren lernen also nie aus.