Nerviger Hausbesuch vom Arzt

Psychisch Kranke sollen nicht mehr in die Klinik – stattdessen könnten Mediziner gegen den Willen der Betroffenen in deren Privatwohnung eindringen

AUS BERLIN ULRIKE WINKELMANN

Als „eine Gefahr für psychisch Kranke“ bezeichnet Anne Lütkes, grüne Justizministerin von Schleswig-Holstein, die Klausel zur ambulanten Zwangsbehandlung im Entwurf für das neue Betreuungsgesetz. Lütkes fordert jetzt den Bundestag auf, das Gesetz ohne den entsprechenden Paragrafen 1906a BGB zu verabschieden. Dieser sieht vor, dass psychisch Kranke oder geistig Behinderte zu jeglicher ambulanten ärztlichen Behandlung gezwungen werden können, wenn sie selbst „die Notwendigkeit der Behandlung nicht erkennen“.

Demnach kann ein Arzt in die Wohnung eines psychisch Kranken oder Behinderten eindringen, um ihm Medikamente zu geben. Eine derartige Zwangsbehandlung ist bislang nur stationär, also im Krankenhaus, möglich. Die Erweiterung dieser Möglichkeiten jedoch „ist ein nicht hinnehmbarer Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht“, erklärte Lütkes der taz.

Damit gibt Lütkes Initiativen von Betroffenen Recht. Diese machen schon seit vergangenen November gegen das neue Betreuungsrecht mobil. René Talbot vom Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg spricht in diesem Zusammenhang von „Folter“. Die Betreiber des Berliner „Weglaufhauses“, einer WG für Menschen, die sich der Behandlung entziehen wollen, fürchten gar um ihre Einrichtung: Prinzip des Hauses ist, dass kein Arzt Zutritt hat. Mit dem neuen Paragrafen 1906a aber könnte genau dies erzwungen werden.

Talbot bemängelt auch die „haarsträubende Kombination“ dieses Paragrafen mit der geplanten Stärkung der Position der Angehörigen. Diese können in Zukunft quasi automatisch als gesetzliche Vertreter der Kranken eingesetzt werden. Die Angehörigen aber, befürchtet Talbot, könnten schneller als bisher eine Zwangsbehandlung veranlassen, wenn sie sich überfordert fühlen oder Eigeninteressen verfolgen. Zwar entscheidet weiterhin ein Gericht darüber, ob eine Zwangsbehandlung zulässig ist. Doch insgesamt soll mit dem Paragrafen die Schwelle zur Zwangsbehandlung gesenkt werden. Dies geht auch aus der Gesetzesbegründung hervor.

So wird die ambulante Zwangsbehandlung zur neuen Etappe im Streit zwischen Psychiatrie und Antipsychiatrie. Das Motiv der Bundesländer, den Paragrafen 1906a BGB ins neue Betreuungsgesetz einzufügen, ist die Erfahrung der „Drehtürpsychiatrie“. Gemeint ist damit, dass Menschen mit Schizophrenie oder manischer Depression zur Behandlung ins Krankenhaus eingewiesen, aber nicht als dauerhaft geheilt entlassen werden können.

Wieder zu Hause, nehmen sie oft ihre Medikamente nicht mehr und und wollen auch nicht, dass ihnen eine Depotspritze gegeben wird, deren Wirkung zwei bis vier Wochen vorhalten würde. Um sie zu behandeln, müssen sie wieder eingewiesen werden. „Die Weiterbehandlung ist das Problem“, erklärt Steffen Lau, Psychiater an der Berliner Charité. „Seit Jahren ist bekannt, dass zur Behandlung von Schizophrenie und verwandten Störungen eine ambulante Betreuung wichtig wäre, um den Menschen ihre soziale Integrationsfähigkeit zu erhalten.“ Vor allem wenn es um die Gabe einer Depotspritze mit einem Neuroleptikum gehe, sei es schlichtweg sinnvoller, dies ambulant statt stationär zu erledigen, erklärt Lau. „Es ist gut, dass der Gesetzgeber diese Lücke erkannt hat und sie jetzt schließen will.“

Was die Psychiatriekritiker als Ausweitung von Zwang bezeichnen, ist also für die Befürworter die Einschränkung von Zwang. Ähnlich wie Lau argumentiert auch das Justizministerium von Nordrhein-Westfalen. Im Vergleich zur Zwangsunterbringung sei die ambulante Behandlung das „mildere Mittel“, erklärt Ministeriumssprecher Ralph Neubauer. Gleichwohl habe sein Haus die Einwendungen der Betroffenenverbände „sehr ernst genommen“ – und deshalb im Bundesrat vorgeschlagen, den Paragrafen 1906a zu streichen. Nordrhein-Westfalen hat den Gesetzentwurf zwar federführend verfasst. Doch der Paragraf 1906a wurde nach Abschluss der Expertenberatungen im November von Bayern eingefügt – man hatte den Aspekt „ambulant vor stationär“ zuvor nicht behandelt. Die Forderung der Schleswig-Holsteiner und der Nordrhein-Westfalen, den Paragrafen noch einmal zu diskutieren und andernfalls zu streichen, wurde von der Bundesratsmehrheit nicht beachtet. Die Bundesländer, wild entschlossen, die „Kostenexplosion“ im Betreuungsbereich zu beenden, winkten ihn durch.

Bis Mitte Februar wird das Bundesjustizministerium eine Stellungnahme zu dem Gesetz abgeben. Dann ist der Bundestag gefragt. Eine Ministeriumssprecherin erklärte der taz gestern, man hege bereits jetzt „erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken“. Womöglich wird sich der mangelnde Diskussionswille des Bundesrats noch rächen.