Liebevoller Pragmatismus

Brigitte Greszik hat vier leibliche Kinder. Und manche ihrer vier Pflegekinder sagen heute ebenfalls: „Brigitte ist meine Mutter“ – doch der lange Weg dahin war auch von Kampf und Tränen begleitet

taz ■ Als sich ihr letztes Kind anmeldete, zögerte Brigitte Greszik lange, es ihrem Mann zu sagen. „Sie haben doch mal davon gesprochen, dass sie für ein ganz kleines Kind vielleicht noch Platz haben?“, hatte die Mitarbeiterin des Fachdienstes „Pflegekinder in Bremen“ (PIB) am Telefon gefragt. „Da hatte ich gerade von einem kleinen Mädchen geträumt“, lacht Greszik. So kam Janine (Name geändert, d. Red.) als viertes Pflegekind zu ihr. Als „dringender Fall“, denn von ihren acht Lebensmonaten hatte sie fünf im Heim gelebt. „Ihr halbes Leben“, sagt Pflegemutter Greszik betroffen. Seit fast 20 Jahren zieht sie die Kinder anderer Eltern groß – zusammen mit ihren eigenen. Acht sind es insgesamt. Die erste Generation ist schon aus dem Haus.

„Janine ist mein letztes kleines Kind“, sagt Greszik. Auch Pflegemütter sollten nicht älter sein als die biologischen Mütter, findet sie. Für ihr Jüngstes hat sie ihr Leben noch einmal zurückgeschraubt, berufliche Hoffnungen hintangestellt und das gerade aufgenommene Lauftraining durch die Hemelinger Grünanlagen wieder aufgegeben. „Meine anderen Kinder waren ja aus dem Gröbsten heraus“, seufzt sie. Aber in ihrem Haus regiert liebevoller Pragmatismus. Entsprechend reagierte ihr Mann, als sie ihm endlich von Janine erzählte. „Dann muss ich mir morgen wohl fürs Kinderheim frei nehmen.“

„Die meisten unserer Kinder sehen ihre leiblichen Eltern regelmäßig“, sagt die Pflegemutter. Einzige Bedingung: „Nüchtern müssen sie sein.“ Suchtkrankheiten sind das Hauptproblem in den Herkunftsfamilien ihrer Pflegekinder. Auch Janines Vater war inzwischen schon zu Besuch.

„Wir wussten anfangs nicht, was auf uns zukommt“, sagt Brigitte Greszik. Und: „Es hat uns auch keiner gesagt.“ Knapp 30 war sie, hatte drei eigene Kinder – aber immer vier gewollt. Eine Freundin brachte sie auf die Pflegekind-Idee und Christian kam ins Haus – mitsamt einer Schwester.

„Als Christian zu uns kam, wollte er seine Koffer nicht auspacken“, berichtet Greszik und schaut den Pflegesohn dabei an. Die Polizei hatte den Jungen damals aus der Wohnung eines brutalen Vaters befreit. Der Sechsjährige zeigte – wie fast alle anderen Pflegekinder auch – Anzeichen schwerer seelischer Verstörung: Er machte in die Hose. Er hyperventilierte. Er kriegte Schreikrämpfe. Und er blieb lange zutiefst misstrauisch. Erst „die Sache mit dem Rock“ brachte eine Wende.

Kleingeschnibbelt fand Brigitte Greszik ihren blauen Lieblingsrock. Daneben den Pflegesohn. Sie stellte das Kind zur Rede, das zurückfragte: „Was machst du jetzt?“ – „Jetzt gehe ich nach oben und weine“, antwortete die Pflegemutter. Als sie das nächste Mal in Christians Zimmer kam, hatte der seine Kleider aus dem Koffer geholt.

„Meine Mutter ist Brigitte“, sagt Christian heute. Obwohl 24, lebt er noch im Pflegeelternhaus. Seine Vergangenheit, der jahrelange Terror durch den leiblichen Vater, holte ihn während seiner Lehre als Holzbearbeiter ein. Christian brach zusammen.

„Eine Therapie will ich nicht machen“, sagt er, wendet viel Kraft auf, die Bilder von damals vor sich zu verbergen. Seine Pflegemutter weiß das. Sie kennt seine Ausbrüche, sein Schreien, sein Neben-Sich-Stehen. In solchen Situationen stellt sie sich manchmal die Frage, ob die Kinder bei ihr richtig sind. Doch bis jetzt sind alle geblieben. Am längsten Christian.

Wenn es sehr hart kommt, ruft Greszik die BeraterInnen beim Fachdienst PIB an. „Da habe ich eine Schulter zum Ausweinen“, sagt sie. Das war nicht immer so. 18 Monate lang nämlich war in Hemelingen so gut wie niemand für Pflegefamilienprobleme ansprechbar. Dann wurde letztes Jahr das Bremer Pflegekinderwesen teilprivatisiert. Es entstand das PIB, wo ehemalige BehördenmitarbeiterInnen heute Pflegefamilien beraten und begleiten, während die Sozialbehörde in erster Linie für Rechtsfragen und Mittelbewilligung zuständig ist – eine deutliche Verbesserung, wie Greszik betont. Behördenschlendrian erlebt sie trotzdem noch.

Janine etwa kam zwar sehr schnell ins Haus. Dann aber wartete die Familie vier Monate aufs Pflegegeld – in diesem Fall rund 800 Euro monatlich. „Ein Sachbearbeiter bei der wirtschaftlichen Jugendhilfe im Sozialzentrum fragte mich tatsächlich, ob ich nachweisen könne, dass wir fähig seien, Janine aufzunehmen“, ärgert sich die vielfache Pflegemutter. Für zwei andere Pflegekinder stehen noch je fünf Monate Kindergeld aus. „Was wäre, wenn der Pflegevater kein Elektromeister wäre?“, fragt Brigitte Greszik gereizt.

Trotz allem: Die Pflegemutter würde wenig anders machen, auch wenn sie die Chance dazu hätte. Denn dass sie für ihre Aufgabe Geduld brauchen würde, weiß sie schon lange. „Pflegekinder reifen langsamer.“ Eva Rhode