„Das Vorbild ist eine demokratische Universität“

Der Germanist Jost Hermand lehrt sowohl in Deutschland als auch in den USA – und warnt vor einer kritiklosen Übernahme des amerikanischen Hochschulsystems: Gebühren schrecken ab, und selbst in Harvard marschieren nicht alle Fächer an der Spitze

taz: Herr Hermand, Sie sind als junger deutscher Wissenschaftler 1958 in die USA gegangen. Warum?

Jost Hermand: Damals wurde der akademische Nachwuchs in Westdeutschland kaum gefördert. Die wenigen Professoren hatten jeweils einen Assistenten, das war alles. Da konnte man kaum eine akademische Karriere beginnen.

Wenn Sie heute ein junger Wissenschaftler wären: Würden Sie sich erneut für die USA entscheiden?

Es käme darauf an, für welche Universität. Die Niveau-Unterschiede sind in Amerika gewaltig. In Deutschland sind dagegen auch kleinere Universitäten oft sehr gut. Ich war vor kurzem in Siegen, dort gibt es beispielsweise eine hervorragende Germanistik.

Aber die amerikanischen Elite-Universitäten sehen Sie als Vorbild?

Nein, das amerikanische System ist relativ undemokratisch. In den USA gibt es fast 300 Universitäten. Wer eine akademische Karriere plant, sollte im Graduate-Programm einer der 20 führenden Hochschulen studieren. Aber je höher eine Universität in den Rankings steht, desto höher sind die Gebühren.

Dafür gibt es doch Stipendien?

Das können sich nur die reichsten Privatuniversitäten leisten. An meiner Hochschule in Wisconsin, die als Staatsuniversität zu den Top Ten gehört, gibt es wesentlich weniger Stipendien.

Internationale Vergleiche zeigen: Trotz des gebührenfreien Studiums ist die soziale Durchlässigkeit des deutschen Systems gering.

Das ist in Amerika kaum anders. Bei den Vergleichen lagen andere Länder vorne – Schweden oder Finnland zum Beispiel, auch Japan.

Wenn wir schon in der Breite nicht mithalten können, brauchen wir dann wenigstens einzelne Glanzlichter?

Die haben wir ja längst. Es gibt in Deutschland zwar keine Hierarchie der Universitäten – aber es gibt sehr wohl einzelne Fachbereiche mit einem hervorragenden Ruf.

Was spricht dagegen, dann offen zu sagen: Das ist unsere Elite-Fakultät, deshalb wird sie besonders gefördert?

Das Problem ist, wie man „Elite“ definiert. Als Amerika gegründet wurde, sagte Thomas Jefferson: Demokratie werden wir erst haben, wenn alle Menschen gleich gebildet sind. Da stellt sich eine Grundfrage der Demokratie: Sind alle Menschen gleich begabt?

Was ist Ihre Antwort?

Wohl nicht. Trotzdem bin ich gegen eine Elite-Universität. Da müssste man erst definieren, was man darunter versteht: Will man eine Ärzte-Elite, eine Ingenieurs-Elite oder eine Juristen-Elite? Welche Elite braucht ein industriell hoch entwickeltes Land wie Deutschland?

Der Bundesregierung schweben Universitäten vor, die in allen Fachbereichen gleichermaßen exzellent sind.

Das ist auch in Harvard nicht der Fall, wo Jura und Wirtschaftswissenschaften den besten Ruf haben. Die Geisteswissenschaften sind dort auch nicht besser als an anderen guten Universitäten. Es kommt auf den einzelnen Fachbereich an, wie in Deutschland.

Der Anspruch, überall gleich gut zu sein, lässt sich also gar nicht einlösen?

Die großen Staatsuniversitäten versuchen es zumindest. Die University of Wisconsin hat fast 50.000 Studenten und fast 3.000 Professoren, davon allein 19 in der Germanistik. Das sind unglaublich hohe Zahlen. Diese Universität hat den demokratischen Anspruch, alles zu unterrichten, was es überhaupt nur zu unterrichten gibt.

Soll das heißen: Das Vorbild für Deutschland heißt nicht Harvard, sondern Wisconsin?

Das beste Vorbild ist ein gute, demokratische Universität, wo die Studenten nach ihrer Leistung gefördert werden – und nicht nach dem Geldbeutel der Eltern. INTERVIEW: RALPH BOLLMANN