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: „Die Stadt der Blinden“

Kennen Sie die Geschichte vom Unterschied zwischen Himmel und Hölle? Also, Petrus führt einen Besucher durchs Jenseits, das man sich wie einen Gang mit mehreren abzweigenden Räumen vorstellen darf. Im ersten Raum steht auf einem sehr großen Tisch eine sehr große Terrine randvoll mit dampfender Suppe. Drumherum hungern die Leute. Warum?, fragt der Besucher. Und Petrus deutet stumm auf die Löffel: Die sind länger als die Arme der Menschen, man kann unmöglich mit ihnen essen. Also verhungern sie alle jämmerlich.

Weiter geht es zum nächsten Abteil. Dort bietet sich dem Besucher dasselbe Bild: Terrine, überdimensionierte Löffel. Dennoch sind alle Menschen fröhlich und gut genährt. Wie das kommt? Weil sie sich gegenseitig mit Suppe versorgen, antwortet Petrus, der eine den anderen, und damit ist das Versorgungsproblem gelöst.

So weit die Parabel, die von Pädagogen geliebt wird, weil sie die vertrackten Fragen von Moral und davon, wie man auf begrenztem Raum miteinander leben soll, auf Tischmanieren und impraktikabel designtes Besteck reduziert.

Fernando Meirelles’ Verfilmung des Romans „Die Stadt der Blinden“ von José Saramago funktioniert ähnlich. Die Bewohner einer namenlosen Stadt verlieren ihr Augenlicht. Weil die Erkrankung extrem ansteckend ist, werden die Betroffenen in Quarantäne gesteckt. Dann schmeißt der Staat den Schlüssel weg.

Es wird so, wie man es ahnt: Im Inneren des Gebäudes gibt es ein Zimmer, in dem man sich hilft, und eines, in dem ist der Mensch dem Menschen ein Wolf. Weil die Bösewichte die Nahrungsvorräte besetzen, können sie von den anderen alles fordern. Einzig Julianne Moore, die immun gegen die Krankheit ist, diesen Umstand vor den anderen aber verschweigt, hält durch ihren selbstlosen Einsatz den Laden am Laufen und die Hoffnung aufrecht. Und ihre Gruppe ist die, die die Katastrophe überstehen wird.

Aus diesem Ergebnis leitet der Film die These ab, dass es vorteilhafter ist, seine Mitmenschen nicht zu vergewaltigen, umzubringen oder sonst wie auszubeuten. Obgleich die Schlussfolgerung eigentlich lauten sollte: Unter den Blinden ist die Einäugige Königin, und wer derart technisch im Vorteil ist, wird auch in pittoresk vermüllter Studio-Umgebung nicht verhungern. DIETMAR KAMMERER

„Die Stadt der Blinden“. Regie: Fernando Meirelles. Mit Julianne Moore, Mark Ruffalo, Gael García Bernal u. ., Japan/Brasilien/Kanada 2008, 120 Min.