so war‘s: Heiner Müllers Spätwerk im Schnürschuh
: Der Engel der Geschichte

Das Bühnenbild war schlicht, sachdienlich: Ein Krankenhausbett, eine Leinwand im Hintergrund, eine Leiter, ein Klavier und, Farbkontrast, drei Dutzend Orangen im Vordergrund.

Heiner Müllers Spätwerk stand im Zentrum der Performance „Nachtflug“, die Rezitator Hans Holger Hille, Tänzer Rolf Hammes und Pianist Michael Rettig im Schnürschuh-Theater zeigten. Müller war einst meistgespielter deutscher Dramatiker. 1995 starb er an Krebs. Sein Spätwerk kreist um die Themen Tod, Kindheit und das vermeintliche Ende der Geschichte. Als ebenso sachdienlich wie das Bühnenbild erwies sich die Inszenierung. Die ausgewählten Texte – Gedichte, Interviews, Tagebuchpassagen– tragen allein durch ihre bilderreiche Sprache und Müllers Hang zum Zynismus. Hille, als Patient im Bett, trug die Text-Collage abwechslungsreich und eindringlich vor, untermalt oder konterkariert von Rettigs Klavierspiel. Oft setzte die Musik den düster gestimmten Textfragmenten Leichtigkeit entgegen, manchmal unterstrich sie deren Schwere. Während das Spiel Hilles und die Musik Rettigs eine schlüssige Verbindung eingingen, blieben die tänzerischen Aktionen Hammes fragwürdig. Sie lenkten eher ab. Dem gegenüber eröffneten kleinere Regieeinfälle wie das kraftvolle Auspressen der Orangen oder der während einer Rasur weiter deklamierende „Müller“ Assoziationsräume. Aus dem Hintergrund leuchtete in der Schlussszene „der Engel“ als Schriftzug auf. Damit wurde das Zitat aus Müllers letzter Gedichtvariation vom „Engel der Geschichte“ unterstrichen. Dieser, so heißt es, sei nicht tot. Doch sein Antlitz ist unbekannt. Arnaud Armgort