Mehr Zeit für zu Hause, weniger für die Arbeit

Die IG Metall beginnt mit bundesweiten Warnstreiks – und stellt eine spannende Forderung: Beschäftigte sollen zwei Jahre lang nur 28 Stunden arbeiten dürfen. Die Arbeitgeber halten dagegen und warnen vor einem verstärkten Mangel an Fachkräften

Jetzt wird’s, nach Jahren der Zurückhaltung, wieder laut: IG-Metall-Demonstrant Foto: Sebastian Gollnow/dpa

Von Pascal Beucker

Die Tarifauseinandersetzung in der Metall- und Elektroindus­trie geht in ihre heiße Phase. Das erste Mal seit dem Ende der Friedenspflicht am 31. Dezember hat die IG Metall für diese Woche zu bundesweiten Warnstreiks aufgerufen. Den Auftakt machten am Montag temporäre Arbeitsniederlegungen in Betrieben in Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Berlin, Brandenburg, Sachsen, Hessen und Thüringen.

Den Schwerpunkt ihrer Proteste legte die Gewerkschaft in den Südwesten. Mehr als 4.000 Metaller rückten dort zu Warnstreiks und Kundgebungen aus, davon mehr als 3.000 bei Porsche in Stuttgart-Zuffenhausen.

Vor der dritten Verhandlungsrunde, die am Donnerstag in Baden-Württemberg beginnt, lässt die Gewerkschaft kräftig ihre Muskeln spielen. Mit den Warnstreiks wolle die Gewerkschaft die „Verweigerungshaltung“ der Arbeitgeberseite brechen, erklärte der Erste Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann. Das dürfte auch nötig sein.

Denn diesmal geht die IG Metall nicht nur mit der Forderung nach einer sechsprozentigen Lohnerhöhung in die Verhandlungen. Sie will zudem für die 3,9 Millionen Beschäftigten einen individuellen Anspruch auf Arbeitszeitreduzierung tariflich verankern. Dagegen jedoch laufen die Arbeitgeber Sturm.

Konkret fordert die größte DGB-Gewerkschaft, dass die Vollzeitbeschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie die Möglichkeit erhalten, ohne Begründung für maximal zwei Jahre ihre wöchentliche Arbeitszeit auf bis zu 28 Stunden zu verringern. Danach soll eine Rückkehr zur alten Arbeitszeit oder eine erneute Reduzierung möglich sein. „Verkürzte Vollzeit“ nennt die IG Metall ihr Modell. „Das Ziel ist mehr Selbstbestimmung bei der Arbeitszeit“, begründet das Gewerkschaftschef Hofmann. „Die Flexibilisierung der Arbeitszeit in den Betrieben darf nicht weiter einseitig zulasten der Beschäftigten gehen, sie muss ihnen auch nutzen.“

Wenn sie wöchentlich mindestens 3,5 Stunden weniger arbeiten, soll es nach den Vorstellungen der IG Metall zur Abfederung der damit verbundenen Lohneinbußen für ArbeitnehmerInnen mit zu pflegenden Angehörigen oder Kindern unter 14 Jahren einen monatlichen Entgeltzuschuss von 200 Euro geben. Für Schichtarbeiterinnen und andere besonders belastete Beschäftigtengruppen soll es außerdem einen Zuschuss von jährlich 750 Euro geben, wenn sie ihre Jahresarbeitszeit um mindestens zehn Tage senken.

Die Arbeitgeber halten solche Vorstellungen für völlig abwegig. Von einer „Stilllegeprämie für Fachkräfte“ spricht Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger. In vielen Betrieben werde heute schon händeringend nach Fachleuten gesucht. „Eine weitere Arbeitszeitverkürzung würde diesen Mangel in unverantwortlicher Weise verschärfen“, behauptet er.

„Mehr Geld für Nichtstun wird es mit uns nicht geben“, gibt sich Dulger unnachgiebig. „Wer länger arbeitet, verdient entsprechend mehr – die gleiche Logik muss auch umgekehrt gelten.“ Die Kombination aus individuellem Anspruch auf Arbeitszeitverkürzung und Lohnausgleich führe „faktisch doch zur kollektiven 28-Stunden-Woche“.

Während sie von Arbeitszeitverkürzungen nichts halten, zeigen sich die Arbeitgeber in Sachen Lohnerhöhung kulanter. Allerdings liegt hier ihr Angebot erwartungsgemäß derzeit noch deutlich unter der Forderung der IG Metall: Sie bieten eine Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro sowie eine Entgelterhöhung um 2 Prozent bei einer Gesamtlaufzeit von 15 Monaten an.

Für „zynisch“ hält es IG-Metall-Chef Hofmann, dass die Arbeitgeber die Forderung nach individueller Arbeitszeitreduzierung inklusive einer kleinen finanziellen Kompensation unter bestimmten Bedingungen als „Stilllegeprämie“ denunzieren. „Wenn Beschäftigte sich um Kinder sorgen, wenn Beschäftigte Pflegeleistungen erbringen gegenüber Familienangehörigen oder wenn sie notwendigerweise ihre Gesundheit erhalten, weil Arbeitgeber sie in restriktive Schichtsysteme zwängen, dann geht es nicht um Stilllegeprämie, sondern dann geht es um Erhalt von Fachkräften, die dadurch auch weiter am Erwerbsleben in vollem Umfang teilhaben können“, sagte er am Montag im Deutschlandfunk.

Die IG Metall gibt sich kampfbereit. Wenn sich der Eindruck verfestigen würde, dass sich ohne weitere Eskalation des Arbeitskonflikts kein Ergebnis erzielen lasse, „dann werden wir entweder über die Möglichkeit eines 24-Stunden-Streiks oder unmittelbar über einen Flächenstreik mit Urabstimmung nachdenken“, kündigte Hofmann an.

Seit vielen Jahren sind die deutschen Gewerkschaften nicht mehr mit einer Forderung nach Arbeitszeitverkürzung in die Tarifverhandlungen gegangen. Bei der IG Metall war das 2003 zum letzten Mal der Fall. Damals wollte die Gewerkschaft die im Westen Mitte der 1990er Jahre erkämpfte 35-Stunden-Woche stufenweise auch für den Osten durchsetzen.

Was ihr in der Stahlindustrie auch gelang. In der Metall- und Elektroindustrie erlebte sie jedoch ein Fiasko. Nach vierwöchigem Flächenstreik brach die IG Metall seinerzeit ihren Arbeitskampf ergebnislos ab . Gescheitert an der Hartleibigkeit der Arbeitgeber, aber auch am Mangel an Solidarität der westdeutschen KollegInnen und an gewerkschaftsinternen Zwistigkeiten, erlitt sie eine der größten Niederlagen ihrer Geschichte. Bis heute müssen die MetallerInnen in den ostdeutschen Bundesländern für das gleiche Geld drei Stunden länger in der Woche arbeiten als ihre KollegInnen im Westen.

Seit diesem Desaster trauten sich auch die anderen Gewerkschaften nicht mehr an die Forderung nach allgemeinen Arbeitszeitverkürzungen heran. Denn dafür könne nicht erfolgreich mobilisiert werden, so die Überzeugung in den Gewerkschaftszentralen. Die Folge: Bis heute gibt es in nur wenigen Branchen die 35-Stunden-Woche, für die in den 80er und 90er Jahren noch so leidenschaftlich gestritten wurde. Und nicht nur das: In vielen Tarifbereichen versuchten die Arbeitgeberverbände nach der Jahrtausendwende, die Wochenarbeitszeit wieder zu verlängern. Erfolgreich waren sie damit etwa im Bauhauptgewerbe, wo 2005 die Arbeitszeit wieder von 39 auf 40 Stunden erhöht wurde – und zwar ohne Lohnausgleich.

Ein solches Rollback steht zwar in der Metall- und Elek­tro­industrie nicht an. Dafür ist der Respekt vor der Kampfkraft der IG Metall dann doch zu groß. Aber stattdessen versuchen die Arbeitgeber, mittels „Flexibilisierung“ die 35-Stunden-Woche auszuhöhlen.

2003 kämpfte die IG Metall für die 35-Stunden-Woche im Osten – und scheiterte krachend

Für die jetzige Tarifrunde haben sie daher einen eigenen Katalog an Forderungen aufgestellt, der konträr zu den Ideen der IG Metall steht. So reicht es den Arbeitgebern nicht mehr, dass bislang je nach Tarifbezirk nur höchstens 13 bis 18 Prozent der in einem Betrieb beschäftigten Mitarbeiter länger als 35 Wochenstunden arbeiten dürfen. Diese Beschränkung soll nach ihren Vorstellungen entfallen.

Außerdem fordern sie die IG Metall auf, einer tariflichen Regelung zuzustimmen, die eine vorübergehende bedarfsbedingte kollektive Erhöhung der Arbeitszeit ermöglicht – und zwar zuschlagsfrei. Darüber hinaus halten die Arbeitgeber die bestehenden Regelungen insgesamt für zu starr, etwa was Zeitzuschläge, die Länge des Arbeitstages und die Ruhezeit von 11 Stunden zwischen zwei Arbeitstagen angeht.

Dabei haben in der Praxis heute nur noch 47,8 Prozent der Beschäftigten der Branche vertraglich die 35-Stunden-Woche. 7,1 Prozent haben eine kürzere, 45,1 Prozent jedoch eine längere Arbeitszeit. Das ist eines der ­Ergebnisse einer großen Beschäftigtenbefragung, die die IG Metall im vergangenen Jahr durchgeführt hat.

Die IG Metall hatte mehr als 680.000 MitarbeiterInnen aus rund 7.000 Betrieben zu Fragen der Arbeitszeit befragt. Im Juni 2017 legte sie die Ergebnisse vor. Danach ist die 35-Stunden-Woche weiterhin die Wunscharbeitszeit für die Mehrzahl der Beschäftigten – auch und gerade für diejenigen, deren vertragliche Arbeitszeit heute höher liegt.

Ein weiteres Ergebnis: Es gibt zudem eine Diskrepanz zwischen den vertraglichen und den tatsächlichen Arbeitszeiten. So arbeiten 57,3 Prozent der Beschäftigten länger, als es ihre vertragliche Arbeitszeit vorsieht. „Die 35-Stunden-Woche ist in vielen Betrieben der Metall- und Elektroindustrie keine gelebte Realität“, konstatieren die AutorInnen der Studie.

taz zwei