Frankreichs Eisenbahner im Ausstand: Rote Signale aus Paris

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron möchte die Rechte der Bahner beschneiden. Seit Wochen wird deshalb gestreikt. Wer trägt den Sieg davon?

Menschen hasten aus einem Bahnhof

Bahnhof Saint-Lazare in Paris während des Streiks Foto: ap

PARIS taz | „Keine Zeit!“ Die Menschen haben es eilig im Pariser Bahnhof Saint-Lazare und hasten vorbei. „On en a marre, marre, marre!“ – „Wir haben es satt, satt, satt!“ – schimpft einer der gestressten Pendler aus der Banlieue draußen vor der Stadt als Antwort auf die Frage, was er denn vom großen Eisenbahnerstreik hält. Heute am frühen Morgen ist das Gedränge in Richtung Metro und Bushaltestellen noch dichter als sonst, schubsend oder die Ellenbogen einsetzend kämpfen die Menschen um den letzten Platz im bereits zum Bersten vollen Waggon. Am späten Nachmittag sieht es nicht besser aus, wenn die Arbeitnehmer auf dem Weg zurück nach Hause in den Vororten sind.

Der Konflikt um die Reform bei der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF ist in der sechsten Runde. Seit Anfang April gibt es in Frankreich die Tage „mit“, und die Tage „ohne“: Drei Tage lang, wenn die Bahner zur Arbeit gehen, herrscht fast so etwas wie Normalverkehr auf den Schienen. An zwei Tagen fallen wegen des Streiks Züge ohne Ende aus. An einem dieser Tage den einzigen noch fahrenden Zug verpassen kommt nicht infrage. Bis Ende Juni könnte das noch gehen, haben die Gewerkschafter gedroht. „Diese Streikform muss von einem Sadisten erfunden worden sein“, meint dazu Micheline Manguin. Sie zählt zu denjenigen Franzosen, die mit ihrer Geduld am Ende sind. Manguin lebt mit ihrem Mann im Westen von Paris. Zweimal täglich muss sie den Bahnhof Saint-Lazare passieren. „Hoffentlich dauert das nicht mehr lange. Das wird kompliziert. Ich muss nachschauen, ob Streiktag ist oder nicht, welche Züge fahren sollen und welche nicht“, sagt die knapp 60-Jährige mit grauem Kurzhaarschnitt.

Micheline Manguin arbeitet als Sekretärin im Finanzministerium, sie ist also eine Beamtin, und als solche hegt sie eine gewisse Grundsympathie für die Streikbewegung der „Kollegen im Staatsdienst“, wie sie sagt: „Es geht der Regierung ja nicht bloß um die SNCF, sondern letztlich um den öffentlichen Dienst und den Beamtenstatus, ich bin da nicht naiv“, sagt sie. Umgekehrt habe sie aufgrund ihres Jobs im Staatsdienst aber auch Verständnis für die Sparanstrengungen der Regierung. „Die Eisenbahner in Frankreich werden nicht gerade am schlechtesten behandelt“, sagt Manguin. Dass diese deshalb „Privilegierte“ seien, so wie die Regierung es darstellt, glaubt sie aber nicht.

Die Nervosität vieler betroffener Pendler ist ebenso groß wie der Ärger. Dafür haben die Franzosen ein Wort: „Ras-le-bol“ – „Die Schnauze voll“. Das klärt aber nicht, wen sie für das wiederkehrende Chaos bei der Bahn verantwortlich machen. Laut Umfragen halten 41 Prozent der Bevölkerung den Streik für legitim, während sich 61 Prozent wünschen, dass die Regierung mit ihren Reformen durchkommt.

Leere im Bahnhof Montparnasse

Im Pariser Bahnhof Montparnasse ist die riesige Halle fast menschenleer. Der Zugang zu den meisten Bahnsteigen, von denen im Normalfall die Züge in südliche Provinzstädte, die Pariser Vororte sowie die TGV-Hochgeschwindigkeitslinien fahren, ist mit roten Plastikbändern abgesperrt.

Auskunft über den Streikfahrplan geben Bahnbeamte, die rote Westen mit der Aufschrift „SNCF Assistance“ tragen. Sie stehen zahlreich in kleinen Gruppen herum und haben wenig zu tun. Auf die Frage, ob sie sich als „Streikbrecher“ betrachten, reagieren sie mit eisigem Schweigen. Unter den wenigen, die sich an diese „Rotjacken“ wenden, sind Touristen, die vom Streik überrumpelt wurden. Eine Britin erklärt, sie habe ein Problem bei der Weiterreise nach Carcassonne im Süden, obwohl sie wegen der Streiks bereits ihre Reisetermine geändert habe. „C’est la France“, fügt sie fatalistisch hinzu.

„In Frankreich gibt es immer Streiks“, wendet eine Touristin mit spanischem Akzent ein. Zumindest statistisch trifft das zu: Mit 132 Streiktagen pro 1.000 Beschäftigten lag Frankreich in den Jahren von 2005 bis 2014 in Europa mit Abstand an der Spitze – in Deutschland waren es im selben Zeitraum nur 15 Streiktage. Nun hatten viele Menschen in Frankreich und im ganzen umliegenden Europa gedacht, mit der Wahl von Emmanuel Macron zum Präsidenten werde sich daran etwas ändern.

Im Fremdenverkehrssektor beginnt man sich ernsthaft Sorgen über die Folgen des Bahnstreiks zu machen. „Wir hatten für 2018 mit einem exzellenten Jahr wie 2017 gerechnet. Allein für den Monat April verzeichnen wir jetzt aber bei der Auslastung der Hotels schon einen Rückgang um 10 Prozent und finanzielle Einbussen in Höhe von rund 150 Millionen Euro“, beziffert Rolland Héguy vom Berufsverband der Hotellerie (UMIH) die absehbaren Verluste. Da parallel zur SNCF auch noch das fliegende Personal der Air France sporadisch für Lohnforderungen streikt, könnte die Rechnung für die Tourismusbranche am Ende gesalzen ausfallen.

In der Halle des Bahnhofs Montparnasse lassen sich die Streikenden an diesem Tag nicht blicken. Das Gewerkschaftslokal der linken Confédération générale du travail (CGT) befindet sich weit entfernt vom stockenden Reiseverkehr in einem Anbau. Um dorthin zu gelangen, muss man an leeren Gleisen entlang und durch lange Korridore gehen und zuletzt eine Treppe hinaufsteigen. An einem Geländer flattern Fahnen des Gewerkschaftsverbands. Im Inneren wird heftig diskutiert. Journalisten werden mit Misstrauen empfangen.

„Das ist wegen der Desinformation“, entschuldigt sich der junge CGT-Sekretär und Lokomotivführer Arnaud Marcinkiewicz. Die SNCF-Direktion behaupte, die Streikenden seien Maximalisten, die an „anachronistischen Privilegien“ festhalten wollten. „Man unterschlägt, dass wir von der CGT konkrete Vorschläge für die Zukunft der SNCF machen und nicht einfach Züge blockieren“, sagt der 30-Jährige. Um dies zu erklären, verteilen die CGT-Mitglieder am Abend ihre eigene Zeitung, La vraie info. Weil das Layout dem des Gratisblatts 20 minutes gleicht, merken die Pendler erst später, was sie da eingesteckt haben.

Für Streikende werden ­Lohneinbußen immer spürbarer

Marc Ribeiro will wie seine Kollegen den von der Reform bedrohten Status der Eisenbahner verteidigen. Für ihn persönlich bedeutete die Festanstellung bei der SNCF mit dem garantierten Kündigungsschutz nach mehreren Jahren mit prekären Kurzzeitverträgen die erträumte Sicherheit. Doch obwohl Ribeiro keine Familie hat, beginnen auch für ihn die Lohnausfälle wegen seiner Streikbeteiligung ins Gewicht zu fallen. „400 bis 500 Euro weniger in einem Monat sind kein Klacks“, sagt der 34-Jährige.

Die vereint auftretenden Gewerkschaftsverbände haben damit gedroht, ihre Streiks in Serie auch drei Monate lang durchhalten zu können. Oder sollte ihnen schon vorher die Puste ausgehen? Bisher sind die Eisenbahner nicht allein. Bei Beginn des Streiks haben Intellektuelle um den linken Philosophen Étienne Balibar und den Filmemacher Robert Guédiguian eine Spendensammlung organisiert, bei der zur Unterstützung der Bahner innerhalb weniger Tage fast eine Million Euro zusammenkam.

Auf die unnachgiebige Haltung der Staatsführung reagieren die Gewerkschaften mit der Ausweitung des Konflikts. Aus Solidarität haben andere Gewerkschaftsverbände des öffentlichen Dienstes, wie aus der Energieversorgung oder von den Pariser Verkehrsbetrieben, Streikappelle lanciert und für ein Zusammenstehen in 130 Städten demonstriert. Nach Angaben der Gerwerkschaft seien 300.000 Menschen auf die Straße gegangen. „Das ist erst der Anfang“, versichert CGT-Generalsekretär Philippe Martinez, nachdem die Regierung von einem Misserfolg sprach. Im Mai wollen linke Parteien gegen die Reformpolitik von Emmanuel Macron demonstrieren. Delegationen von Eisenbahnern haben schon jetzt Vollversammlungen in den derzeit wegen einer Reform des Hochschulzugangs besetzten Universitäten besucht, wo sie von den Studierenden viel Applaus bekamen.

Menschen drängen sich in einem Zug

Gare de Lyon, Paris: Wenn einmal ein Zug fährt, ist er gequetscht voll Foto: ap

Vor dem CGT-Lokal am Bahnhof Montparnasse machen sich Vertreter mehrerer Gewerkschaften bei einer Rauchpause gegenseitig Mut. Unter den Streikenden wächst mit der Zahl der wegen des Ausstands nicht bezahlten Tage auch die Nervosität. Wer wird bei dieser Kraftprobe um ein Symbol des französischen Sozialmodells länger durchhalten? Von Mal zu Mal nimmt nach Arbeitgeberangaben der Anteil der aktiv Streikenden ab. Doch davon bemerken die Bahnbenutzer bisher nur wenig. Auch wenn laut SNCF-Angaben nur 20 Prozent des gesamten Personals im Ausstand sind, fahren nicht mehr Züge, weil weiterhin fast zwei Drittel der Lokführer streiken. Sie gelten als die Bastion des Widerstands. Nicht jedes Mal legen bei dieser neuartigen Streikform mit Unterbrechungen alle Beschäftigten gleichzeitig die Arbeit nieder. Trotzdem kommt dann jeweils bestenfalls die Hälfte der schnellen TGV-Züge auf die Strecke, und bei den Regionalzügen und im Nahverkehr fallen oft sogar drei Viertel der im Fahrplan aufgeführten Verbindungen aus.

Lässt der Ärger der Passagiere die Stimmung und damit die öffentliche Meinung zu dem Eisenbahnerstreik kippen? Damit rechnen die Regierung und die Direktion der Staatsbahn SNCF. Doch Umfragen bestätigen das nur begrenzt. Fast die Hälfte der Befragten war nach eigenen Angaben zu Beginn mehr oder weniger solidarisch mit den Streikenden. Nach den ersten massiven Ausfällen antworteten allerdings 58 Prozent, sie hätten „kein Verständnis“ für die Bahner. Inzwischen ist ihr Anteil wieder auf 54 Prozent gesunken.

Ein Kompromiss erscheint unmöglich

Beide Seiten haben unvereinbare Antworten auf die wichtigsten Fragen: Ist die Reform zur Öffnung des Marktes für die Konkurrenz unausweichlich? Sind der bisher existierende Kündigungsschutz und das frühe Renteneintrittsalter der Eisenbahner ein Wettbewerbsproblem? Wäre eine Privatisierung der SNCF im Interesse der Bahnbenutzer? Die Regierung verweist dabei auf Deutschland mit der Deutschen Bahn als Vorbild einer positiven Öffnung für die Konkurrenz. Die Gewerkschaften führen als negatives Gegenbeispiel Großbritannien an.

Dass die Fahrkarten nach einer Privatisierung günstiger würden, glaubt der Wirtschaftsprofessor Marc Ivaldi von der Universität Toulouse nicht. Die Tickets seien nur dank öffentlicher Subventionen durch Frankreichs Regionen günstiger als bei den europäischen Nachbarn. „Ein Franzose bezahlt so im Durchschnitt nur 40 Prozent des reellen Preises“, sagt Ivaldi.

Mitreden wollen auch Verbraucherorganisa­tio­nen wie der Verband der Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel (FNAUT). Dessen Sprecher Christian Broucaret meint: „Die Leute haben langsam Mühe, diese Streiks zu ertragen. Zu Beginn ging das noch. Man stellt sich darauf ein, nimmt womöglich Kompensationstage. Doch nicht alle haben Freizeit, die sie dafür opfern können oder wollen. Auch ist es nicht allen möglich, von zu Hause aus zu arbeiten. Je weniger Verständnis die Leute für den Streik haben, desto mehr wenden sie sich anderen Transportmöglichkeiten zu.“ Das aber könne weder im Interesse der SNCF noch in dem des Personals sein. Ein anderer Verbraucherverband fordert die Rückerstattung aller monatlichen Bahn-Abos.

Wenn die Bahn nicht fährt, kassieren andere

Zu den Gewinnern des Streiks gehören kommerzielle Mitfahrzentralen wie BlaBlaCar, deren Benutzerzahl sprunghaft gestiegen ist. Auch ältere Leute haben diese relativ kostengünstige Form des Reisens entdeckt und schwärmen von ihrer unterhaltsamen Fahrt im Pkw. Einen Aufschwung erleben auch Reisebusunternehmen. Diese betreiben in Konkurrenz zur Bahn Verbindungen zwischen rund 200 Städten, und das verdanken sie einer Liberalisierung durch den damaligen Wirtschaftsminister Macron. Der Marktführer Flixbus spricht von einer Umsatzsteigerung um 80 Prozent an den von Streiks betroffenen Wochenenden. Ein Teil der neuen Kunden, so steht zu vermuten, könnte seine Reisegewohnheiten ändern, auch wenn der Streik längst beendet ist.

Die Nationalversammlung hat vor einer Woche die Gesetzesvorlage zur Reform der Bahngesellschaft dank der Unterstützung durch die Regierungspartei von „En marche“ und des konservatives Lagers mit einer klaren Mehrheit von 454 gegen 80 Stimmen verabschiedet. Die Regierung hat daraufhin erklärt, ab 2020 kämen Neuangestellte bei der Bahn nicht mehr in den Genuss der im historischen Sonderstatus garantierten Rechte.

Emmanuel Macron, Staatspräsident

„Sie können motzen, aber Sie dürfen nicht blockieren und die Franzosen als Geiseln nehmen“

Am Streik hat der Beschluss nichts geändert. Das weiß auch der Präsident. Emmanuel Macron tritt neuerdings vermehrt in der Öffentlichkeit auf, um seine Reformen zu verteidigen – zuerst zweimal im Fernsehen, danach bei einem Besuch in Saint-Dié-des-Vosges in Lothringen. Dort erwarteten ihn nicht nur Fans und Offizielle, sondern auch Gewerkschafter, um ihn lautstark mit ­Pfiffen und Buhrufen zu empfangen. Macron liebt eigentlich solche Herausforderungen, doch dieses Mal wirkte er sichtlich irritiert. „Ich werde Ihnen zuliebe meine Reformen nicht verschieben oder mich verstecken, damit ich in aller Ruhe spazieren gehen kann“, beschied er einen Gewerkschafter, der mit ihm diskutieren wollte. „Sie können motzen, solange wie Sie wollen, aber Sie dürfen nicht blockieren und die Franzosen als Geiseln nehmen“, erwiderte der Präsident den Eisenbahnern schroff.

Macron kann es gar nicht schätzen, dass die Eisenbahner nicht nur seine Reformpolitik ausbremsen wollen, sondern auch noch weitere Berufsgruppen mobilisieren: die Beschäftigten des öffentlichen Diensts, des Energiesektors, die streikenden Piloten und FlugbegleiterInnen von Air France, die durch eine Steuerreform ge­schröpften Rentner, die gegen eine Hochschulreform protestierenden Studierenden. Für Macron bedeutet die Bahn-Reform die große Weichenstellung zur Modernisierung Frankreichs nach seinen liberalen Vorstellungen. Falls es seine Absicht sein sollte, die französische Gewerkschaftsmacht ein für alle Mal zu schwächen, dann ist der Streit mit den Bahn-Mitarbeitern für ihn von essen­zieller Bedeutung.

Noch ist dieser Kampf nicht entschieden.

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