ZEIT.ORTE

Axel Ruoff, geboren 1971 in München, studierte Literaturwissenschaften, Philosophie und Kunstgeschichte in Berlin und Aix-en-Provence. Sein Debütroman „Apatit“ war für den Rauriser Literaturpreis 2016 nominiert. Ebenfalls im Verlag Bibliothek der Provinz ist im August „Schlangen Schauen. Eine Anthologie des Arabesken“ erschienen. www.bibliothekderprovinz.at

Der Falke, der Tod und der Schuh

Axel Ruoff

Der Falke (1)

Ein Wanderfalke war in den Hinterhof herabgestoßen und hatte sich gegenüber auf der Brüstungsmauer eines Mülltonnen- oder Fahrradschuppens niedergelassen, R stand am Fenster und beobachtete, wie der Raubvogel angriffslustig zu den hohen Ahornbäumen hinaufblickte, in denen Amseln hohe Warnrufe ausstießen und zeterten, Spatzen unregelmäßig und verstört trillerten und Elstern ihre metallenen Schnabelklingen aufeinanderschlugen. R hatte gesehen, dass Meisen, Finken, Rotkehlchen und Amseln gegen Elstern und Krähen aufflogen, um sie zu vertreiben und ihre Brut zu schützen, dass sie die Angreifer verfolgten und über den Himmel trieben, jetzt warnten sie jedoch nur, ohne sich hervorzuwagen, ließen den Falken in Ruhe sitzen, der gleich auffliegen würde, um sich seine Beute zu holen, dachte R und wunderte sich, dass der Raubvogel so lange mit dem Angriff wartete, anstatt die Vögel zu überraschen, die bedroht nicht Reißaus nahmen. Der Falke verdrehte den vorgestreckten Kopf mit großen, gelbschwarz umringten Augen in alle Richtungen, als ob er sich sein Opfer noch aussuchen müsste, was Rs Vorstellung vom flügelschlagenden Raubvogel widersprach, der hoch oben in der Luft sein ahnungsloses Opfer unnötig lang anvisierte, als ob er es mit seinen Blicken hin- und herstieße und zu seiner Lust leiden ließe. Plötzlich würde er vom Himmel herniederschießen und im Sturzflug zuschlagen, seinem Beutetier in die Flügel greifen und es mit seinem Falkenzahn tödlich am Hinterschädel treffen, und dann bliebe er stolz auf dem noch warmen Körper sitzen, anstatt von unten auffliegend ein Tauben- oder Elsternnest auszuräubern, was so gar nicht zu seinem kräftigen, langgestreckten Rumpf und sich schlangenhaft verdrehenden Hals, dieser hektischen, gierigen, R irgendwie bösartig erscheinenden Unruhe passte. Als der Greifvogel dann aufflog, sah er einen Schuh an seinen Klauen hängen, als hätte der Vogel anstatt einer genießbaren Beute das Kleidungsstück gejagt.

Martyrium (1)

Als Eltern, Kind und Kindeskind die Steinklamm im Bayerischen Wald hinaufstiegen, wurde der Weg nach einem steilen, steinigen Anstieg flacher, und plötzlich standen die vier Familienmitglieder aus drei Generationen vor einem verlassenen Paar rote Wanderschuhe, die Größe und Schnitt nach zu urteilen für Frauen bestimmt waren, einer der Schuhe, neben denen zwei lange Wollstrümpfe mit rotgrünem Zickzackmuster lagen, war umgefallen, sodass das Schuhwerk in der Bergkulisse einen noch verdächtigeren, beunruhigenderen, einen ganz und gar unvernünftigen Eindruck machte, als ob es dem Mädchen aus dem Märchen „Die roten Schuhe“ hier endlich gelungen wäre, die Schuhe abzulegen, die ihren leidenschaftlichen Wunsch nach Schönheit und Freiheit geweckt hatten, von unkontrollierbarem Bewegungsdrang beherrscht waren ihre ungehörig eigenwilligen Füße samt den Schuhen abgehackt worden.

Gehhilfen der Freiheit (1)

Im Gegensatz zu den Füßen ihrer Vorfahren seien die ihren so klein, dass es ihr nahezu unmöglich sei, passende Schuhe zu finden, in der Abteilung für erwachsene Füße grenze es an ein Wunder, wenn die Kleinheit ihrer Füße berücksichtigt werde, die ihr als Jugendliche peinlich gewesen sei, vor allem als die Freundinnen aus ihren Kinderschuhen herausgewachsen seien. Ihre Fußgröße entspreche normalerweise nicht dem Maßstab der menschlichen Art in ausgewachsener Gestalt, worüber sie auch passende Festtagsschuhe aus der Kinderabteilung nicht hinwegtrösten könnten, die nur ihr Gefühl verstärkten, nie erwachsen zu werden, kindlich verflucht, entwicklungslos unreif zu sterben. Einmal habe sie jedoch in Paris ein paar rote Schuhe mit glutorangefarbenen Schnürbändeln gefunden, die ihr wie angegossen gepasst hätten, ohne eindeutig als Kinderschuhe erkennbar zu sein. Elegant geschnitten, leicht und aus gutem Leder, hätten sie an Tanz- und Ballettschuhe erinnert, ohne besonders festlich, aufdringlich oder ballerinahaft zu wirken. Wochenlang habe sie keine anderen Schuhe als diese roten Schuhe getragen, die sie anprobiert und nicht mehr ausgezogen habe.

Martyrium (2)

In der Nacht träumte R vom Halbschuh Rosa Luxemburgs, den sie verlor, als sie durch die aufgeschobene Drehtür des Hotels Eden gestoßen wurde und der erste Gewehrkolbenschlag ihren Kopf traf, sie stürzte zu Boden und aus der Platzwunde an der Stirn floss Blut, tropfte auf den liegengebliebenen Schuh, als der zweite Schlag ihren Kopf traf, sie hochgerissen und zum Auto geschleift wurde, wo man ihr tödlich ins Gesicht schoss, während ein Soldat den blutigen Schuh als Trophäe an sich nahm, die ein unheimliches Eigenleben zu führen begann. Wie die abgeschlagenen, in den roten Schuhen steckenden Füßchen des Mädchens war sie nicht unter Kontrolle zu bringen und irrte eigensinnig hinkend, ruhelos durch die Zeit. Der Träumer, dem dieser weitergereichte Schuh heimlich zur Aufbewahrung übergeben worden war, versuchte vergeblich, den Lederschuh nachts neben den leeren Hasenställen im Hinterhof zu begraben, etwa ein Kilometer Fluglinie von dem Frauengefängnis in der Barnimstraße entfernt, in dem Rosa Luxemburg während des 1. Weltkrieges eingesperrt gewesen war.

Falke (2)

Freya, Göttin im Falkenkostüm, sei R zu Hilfe gekommen und habe sich des Schuhs der Gelynchten angenommen, um dem makabren Aschenputtelspiel ein Ende zu bereiten. Anstatt mit dem Mädchen in den roten Schuhen über Friedhöfe, mit Rosa Luxemburg über Schlachtfelder zu streifen, um den gefallenen Geliebten zu suchen, habe sie die Verstümmelte, der ein leidenschaftlicher, selbstbestimmter Schritt verwehrt worden sei, die Misshandelte, der man die letzte Geistesbeweglichkeit aus dem Kopf geschlagen habe, von ihrem Zombiedasein erlösen wollen. Der Versuch sei wohl gescheitert, die unversehrte Auferweckung sei misslungen und ein Fuß sei von der fallbeilscharfen Drehtür der Geschichte abgetrennt worden und in der Gegenwart zu Boden gefallen, wo er als blutiger Fremdkörper auf dem Schuppen gegenüber gelegen habe.

Falke (3)

Der unheimliche, bläulich schimmernde Falke, der mit langen spitzen Flügeln aufgeflogen war, hätte auch ein die Zeiten durcheilender Bote sein können, der den Schuh von der sogenannten Schuhprüfstrecke des Konzentrationslagers Sachsenhausen, einer mörderischen Materialteststrecke in Flugweite, durch die Zeit bis ins 21. Jahrhundert getragen hätte. Das geflügelte Tier kam jedoch weder aus der Vergangenheit noch aus einem Märchen angeflogen, denn R bemerkte, dass seine Augen ihn getäuscht hatten und der Vogel gar keinen Schuh gejagt hatte, ebenso wenig trug der Raubvogel, der kein Verkünder einer befriedeten Natur war, einen für Langstreckenflüge zu schwachen Singvogel auf dem Rücken, um ihn emporzuheben und übers Meer in eine Landschaft zu tragen, in der sich der Winter paradiesisch überleben ließ. An den Krallen des aufsteigenden Raubvogels hing eine bewegungslose Taube, von der kein Laut zu hören, nichts zu sehen gewesen war, R habe an den gelben Falkenbeinen diese überdimensional groß erscheinende Taube hängen sehen, die nur als schwarzer Schatten erkennbar gewesen sei, in den sich die Tierleiche verwandelt habe, als ob sie von diesem Vogel mit den schwarzen Streifen unter den Augen ins unterirdische Reich der Toten überführt würde. Da seien die Zackenlinien der Ahornblätter mit dem schwarzgefleckten weißen Gefieder des Falken verschwommen, dessen riesiger Raubvogelrumpf sich in den Hinterhof gedrückt habe, und R sei schwindlig geworden.

Martyrium (4)

Als Rs Familie sich auf dem ausgetrampelten Wildererpfad bis zur Forststraße hinaufgeschleppt habe, sei seinem Vater schwindlig geworden, ihm müsse der Anblick der herrenlosen Trekkingschuhe und Strümpfe nahegegangen sein, die ein Verbrechen vermuten ließen, der Vater habe zugegeben, dass er gleich aus den Latschen kippe, und während die anderen beratschlagt hätten, wie einer von ihnen möglichst schnell das Auto holen könne, habe das bleiche Familienoberhaupt barfuß auf einer Bank gelegen und an Traubenzucker und Kreislauftropfen lutschend, langsam seine Kräfte wiedergewonnen, anstatt das Zeitliche zu segnen, wie das Mädchen, das die roten Schuhe und auch seine hölzernen Gehhilfen abgelegt habe, um im Jenseits nicht mit Blutschuhen, nicht mit Prothesen eines versagten Lebens anzukommen, R habe sich vorgestellt, wie es auf verschorften Beinstümpfen und mit zweifach eingeschlagenem Schädel über das moosbewachsene Geröll gehumpelt sei und sich in die Klamm hinabgestürzt habe, als ob es sich selbst als Opfer darbrächte, um in die Natur einzugehen und die kleinliche Unzulänglichkeit des Menschen den Erdbewegungen und Gestaltungskräften anderen Maßstabs zu überantworten.

Gehilfen der Freiheit (2)

Die roten Schuhe hätten ihre kleinen Füße nicht beweglicher, ihre kurzen Beine nicht behänder gemacht, dennoch hätten die Schuhe grundsätzlich ihre Art aufzutreten verändert, sie habe das ihr gemäße Schuhwerk gefunden, das sie wie eine Gehhilfe nötig gehabt habe, um auf ihren eigenen, ausgewachsenen Beinen zu stehen, einen eigenen Schritt zu finden, der anderen vielleicht zu kurz oder zu langsam, tapsend oder kurzatmig trippelnd, jedenfalls unbeholfen erscheine, man werfe ihr vor, sie berühre den Boden zu kurz, nutze beim Abrollen nicht alle anatomischen Möglichkeiten und stoße sich nicht genug wippend vom Boden ab, was sie hätte größer erscheinen lassen. Sie aber habe das Gefühl gehabt, eigene Schritte zu gehen, und dabei die Schuhe durchgelaufen, die jetzt löchrig mit geplatzten Nähten im Schuhregal stünden. Sie habe Angst, sie reparieren zu lassen, denn neue Sohlen könnten die Schuhe verderben, es sei aber nicht unmöglich, dass ihr die Eigenart der roten Schuhe während des ununterbrochenen Tragens in Fleisch und Blut übergegangen sei.

Falke (4)

Die verwitwete Taube hatte tage- und wochenlang oben an der Blechkante der fensterlosen Hauswand gesessen, von unten nur als mehr oder weniger kopfloser Schatten erkennbar, als wünschte sie, dass der grausame Falke auch sie holen oder einer der Sommergewitterblitze sie treffen würde, was offensichtlich nicht geschah, denn R wurde Zeuge, wie ein Täuberich sich der Taube, als sie gerade in die Ahornäste hinuntergeflogen war, balzend näherte. Von da an saßen die beiden Vögel gemeinsam auf dem Hausdach und schienen, anstatt ein Nest zu bauen, anderweitig beschäftigt, ohne dass ihr erregt hektisches Treiben von unten irgendwie verständlich wurde, das so aussah, als ahmten sie die abgehackten Bewegungen der über die Dächer tanzenden Füßchen in den roten Schuhen nach.