Ármin Langer über jüdische Identitäten: „Juden sind heute Mainstream“

Ármin Langer machte eine Ausbildung zum Rabbiner am Abraham Geiger Kolleg. Dort flog er raus – weil er sich mit dem Zentralrat der Juden anlegte.

Armin Langer bei einem Flashmob

„Ich wusste nicht, was es bedeutet, Jude zu sein“: Ármin Langer bei einem Flashmob mit dem Muslim Ender Cetin in Neukölln Foto: dpa

taz: Herr Langer, Sie sind angehender Rabbiner und leben offen schwul. Gerade haben Sie das Buch „Ein Jude in Neukölln“ veröffentlicht. Sind Sie ein Opfer?

Ármin Langer: Ob ich ein Opfer bin? (lacht) Wenn man die Berichterstattung über Juden oder Schwule in Europa liest, könnte man das vielleicht denken, aber ich wehre mich dagegen! Egal ob ich Antisemitismus oder Homophobie erlebe, ich kann mich hier sicher bewegen. Ich bin kein Opfer.

Das ist angesichts Ihrer Familiengeschichte eine sehr mutige Haltung. Sie sind nach Ihrem Urgroßvater Ármin Rózsa benannt, der in Auschwitz vergast wurde.

Tatsächlich hat mein Name diese Geschichte. Aber Ármin stammt aus der gleichen Wurzel wie das Wort Armee und bedeutet eigentlich Kämpfer. Und ich halte mich auch für einen Kämpfer, einen Kämpfer für Menschenrechte.

Wie hängt das zusammen, Judentum und Opferstatus?

Es hat einen guten Grund, warum wir das Judentum mit einem Opferstatus assoziieren, weil wir 2.000 Jahre lang in Europa tatsächlich Opfer waren. Wir wurden verfolgt und ermordet, manchmal toleriert, aber wir wurden nie als Teil von Europa gesehen. Europa hat sich immer als christlich identifiziert, und die Juden waren immer die Anderen. Aber das hat sich in den letzten Jahrzehnten nach der Schoah verändert. Heute gehören Juden zum Mainstream und können mitbestimmen, wie es in Europa weitergeht. Das freut mich sehr. Aber auch andere Minderheiten sollten als Teil von Europa gesehen werden.

Sie werfen dem Zentralrat der Juden vor, sich zu sehr auf den Holocaust zu fixieren. Ist es nicht eine Errungenschaft, dass Juden heute öffentlich erinnern können?

Natürlich ist das eine Errungenschaft und wir sollen uns auch erinnern. Aber die Schoah sollte nicht der Fokus unserer jüdischen Identität sein. Der österreichisch-israelische Religionsphilosoph Martin Buber war zum Beispiel der Auffassung, dass der Antisemitismus und der Holocaust nicht ein Problem der Juden sei, sondern der Antisemiten. Er hat sich mit diesem Thema überhaupt nicht befasst. Ich verstehe Bubers Motivation, auch wenn ich mich selbst intensiv mit Antisemitismus und der Schoah beschäftige.

Dabei wussten Sie bis zu Ihrem 16. Lebensjahr überhaupt nicht, dass sie jüdisch sind. Sie sind ja in Ungarn in einer atheistischen Familie aufgewachsen.

Das ist übrigens eine sehr typische osteuropäische jüdische Geschichte. Viele Juden dort haben sich assimiliert, haben ihre Kultur, Religion und ihre jüdisch klingenden Namen aufgegeben.

Ihr Vater hat Ihnen dann sehr beiläufig im Auto von Ihrer Identität erzählt. Wie war das für Sie?

Das war schon überraschend. Ich war mir nie sicher, ob meine Familie jüdisch oder teilweise jüdisch ist. Es gab mehrere Bücher zu Hause über den Holocaust. Es gab auch ein Buch über Juden in Europa, und der Autor hieß wie wir mit Namen Langer. Ich habe meinen Vater einmal fast gefragt, ob er mit uns verwandt ist. Habe es dann aber doch nicht getan.

Das heißt, Sie haben es zumindest für möglich gehalten?

Vielleicht unterbewusst. In dem Moment, als mein Vater es mir sagte, habe ich es weder positiv noch negativ aufgefasst. Aber ich wusste auch nicht, was es bedeutet, Jude zu sein. In Sopron, der Stadt, wo ich aufgewachsen bin, gab es keine jüdische Gemeinde, kein jüdisches Leben, ich war nie in einer Synagoge bis ich mit 19 Jahren nach Budapest gezogen bin.

War die Entscheidung, Rabbiner werden zu wollen, vielleicht der Versuch, die Leerstelle in Ihrer Biografie zu kompensieren?

Nein. Ich hielt mich schon lange vor dieser „Entdeckung“ für religiös. Ich habe als Teenager ganz oft gebetet – ohne eine bestimmte Form. Im Judentum habe ich dann für meine religiösen Gefühle einen Rahmen gefunden. Und von meinem ersten Taschengeld habe ich eine Bibel gekauft.

Interessant. Was mich bei der Lektüre Ihres Buchs auch überrascht hat: Ihre Klassenkameraden haben Sie immer als Jude beschimpft, bevor sie überhaupt wussten, dass Sie tatsächlich jüdisch sind.

Ich habe mir oft Gedanken darüber gemacht, warum mich meine Klassenkameraden zum Juden gemacht haben und mich wegen meiner „jüdischen Visage“ gehänselt haben. „Jude“ ist ja für viele ein Schimpfwort, nicht nur in Ungarn, auch hier. Aber ich erinnere mich zum Beispiel an eine Szene in der Umkleide nach dem Turnen. Sechs Jungs tuschelten: Ist der Ármin jüdisch? Der eine sagte: nein, der andere: doch.

„Es gibt nicht so viele orthodoxe Juden in Neukölln, aber ich kenne Leute, die jeden Tag mit einer Kippa rumlaufen“

Was änderte sich nach dem Gespräch mit Ihrem Vater?

Als ich erfahren habe, welcher Herkunft ich bin, habe ich mich als Erstes vor den Computer gesetzt und angefangen, meine Großeltern und Urgroßeltern zu suchen. Ich habe sie dann in der Datenbank des Jerusalemer Jad-Vaschem-Zentrums gefunden. Meine Beziehung zu der Schoah hat mich in der Zeit danach lange fast ausschließlich beschäftigt.

Mit 19 Jahren haben Sie das erste Mal in Ihrem Leben eine Kippa getragen – auf einer Demonstration in Budapest „Kippot ohne Angst“. Heute tragen Sie aber keine.

Ich habe damals die Kippa nicht als religiöses Symbol getragen, sondern einmalig als politisches Symbol. Es ging mir um jüdische Sichtbarkeit. Manchmal denke ich darüber nach, auch die Kippa hier in Deutschland zu tragen, damit sich die Menschen daran gewöhnen, dass es hier Juden gibt, nicht nur Muslime und Christen.

Und warum machen Sie es nicht?

Ich fühle mich einfach nicht wohl, wenn ich religiöse Symbole sichtbar trage.

Weil sie Angst haben?

Nein, ich würde auch in einer Synagoge keine Kippa tragen, wenn es die Gemeindemitglieder nicht stören würde. Ich drücke meine Religiosität lieber mit Taten aus als mit physischen Symbolen. Aber gleichzeitig setze ich mich dafür ein, dass, wenn jemand eine Kippa oder ein Kopftuch tragen will, er oder sie das auch darf.

Sie leben seit drei Jahren in Neukölln, also in dem Bezirk, den Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, als No-go-Area für Juden bezeichnet hat, weil dort viele Muslime leben. Haben Sie das mal ausprobiert: mit Kippa durch Neukölln zu laufen?

Es gibt tatsächlich nicht so viele orthodoxe, traditionelle Juden in Neukölln, aber ich kenne ein paar Leute, die jeden Tag in Nordneukölln mit einer Kippa rumlaufen. Einer wohnt hier gleich am Hermannplatz, wir besuchen dieselbe Synagoge am Landwehrkanal. Am Sabbat laufen wir nach dem Gottesdienst immer zusammen nach Hause, den Kottbusser Damm entlang. Dann trage ich zum Beispiel auch immer eine Kippa.

Ist schon mal etwas passiert?

Manche begrüßen uns mit „Schabbat schalom!“. Mehr ist uns noch nicht passiert. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir nicht vielleicht irgendwann mit „Juden ins Gas“ angepöbelt werden. Aber auch ohne Kippa im Alltag gehe ich mit meinem Judentum sehr offen um. Es wird Antisemitismus sicher auch in Neukölln geben, aber ich habe es noch nicht erlebt. Viele, vor denen ich mich als Jude oute, erzählen mir vom friedlichen Zusammenleben von Juden und Muslimen in Andalusien im 19. Jahrhundert. Das höre ich hier so oft, dass es mich manchmal schon langweilt.

„Die Schoah sollte nicht der Fokus unserer jüdischen Identität sein“

Sie haben im Dezember 2013 die Salaam-Schalom-Initiative gegründet, wofür steht die?

Wir wollen ein klares Zeichen setzen, dass Muslime und Juden keine Feinde sind. Das ist alles. Aber es gibt heftigen Gegenwind, auch vom jüdischen Establishment. Mir wird oft vorgeworfen, ich würde nur mit liberalen Muslimen zusammenarbeiten und würde deswegen keinen Antisemitismus erleben.

Sprechen Sie denn mit allen muslimischen Gemeinden?

Wir reden mit allen jüdischen und muslimischen Gemeinden, die gewaltfrei sind. Ich mache dabei viele Kompromisse: Ich arbeite mit türkischstämmigen Muslimen, die den Genozid an den Armeniern leugnen, mit Juden, die die Siedlerpolitik in Israel unterstützen, oder Konservativen, die gegen die Homo-Ehe sind.

Und Sie begegnen gar keinen antisemitischen Vorurteilen, wenn Sie beispielsweise mit Palästinensern zusammenarbeiten?

Ja klar, es ist nicht einfach. Besonders unter Palästinensern oder Menschen aus palästinensischen Einwandererfamilien ist es wichtig, klar zu machen, wo der Unterschied zwischen Judentum und israelischer Besatzungspolitik ist. Aber dieser Unterschied wird auch in den jüdischen Gemeinden nicht immer klar gemacht.

Wie geht Ihre Initiative damit um?

Wir gehen mit der Initiative zum Beispiel oft in Neuköllner Schulen, wo fast alle Schüler aus muslimischen Einwandererfamilien kommen. Unsere Mitglieder sind oftmals die ersten Juden, die sie in ihrem Leben sehen.

Wie reagieren die Schüler so?

Durch Begegnung kann man viele Vorurteile abbauen. Die meisten merken dann, „Ah, die Juden sind ja so langweilig.“ (lacht) Aber man bräuchte eine solche Begegnung auch an den jüdischen Schulen, doch die laden uns oder andere Vereine, die so etwas anbieten, nicht ein.

Der Mensch: Ármin Langer wurde 1990 in München als Sohn ungarischer Migranten geboren. Er wuchs in Wien und Sopron auf, studierte Philosophie in Budapest, besuchte parallel im Sommer 2012 und 2013 die Hochschule Conservative Yeshiva in Jerusalem. 2013 begann er am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam seine Ausbildung zum Rabbiner, im Januar 2016 wurde er rausgeworfen. Seit Dezember 2013 koordiniert er in Neukölln die Initiative Salaam-Schalom.

Das Buch: Ármin Langer: „Ein Jude in Neukölln. Mein Weg zum Miteinander der Religionen“. Aufbau Verlag 2016, 304 Seiten, 19,95 Euro

Die Lesungen:19. 10: W. M. Blumenthal Akademie des Jüdischen Museums, 
Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz 1, um 19 Uhr17. 11: Interkulturelles Zentrum Genezareth, Herrfurthplatz 14, Neukölln, um 18.30 UhrMehr Infos: facebook.com/armin.langer

Sie sagen, Juden seien eine privilegierte Minderheit – anders als Muslime. Können Sie das erklären?

Muslime werden strukturell diskriminiert. Und gleichzeitig ist Hetze gegen Muslime salonfähig. Die AfD hat den antimuslimischen Rassismus nicht erfunden, der wird von allen Parteien betrieben. Sarrazin, Sahra Wagenknecht oder Heinz Buschkowsky, der ehemalige Bürgermeister von Neukölln, sind ja alle nicht in der AfD. Würde heute jemand aufstehen und sagen: „Die Juden sind so primitiv“, wäre die Karriere sofort beendet. Und das ist gut so, es sollte nur für andere Minderheiten auch gelten.

Aber es gibt immer noch viele antisemitische Straftaten.

Ja, aber das ist kein Grund, unsere jüdische Identität der Angst zu überlassen. Und ich frage mich, ob diese Antisemitismusdiskussionen nicht total kontraproduktiv sind.

Wie meinen Sie das?

Wenn der israelische Botschafter Yakov Hadas-Handelsman zum Beispiel sagt, dass das Jahr 2014 für Juden in Berlin so schlimm war wie das Jahr 1938, dann halte ich das für kontraproduktiv. Warum so ein Drama? Im Jahr 2009 gab es zum Beispiel viel mehr antisemitische Straftaten als 2014 während des Gazakonflikts. Wir müssen mit diesem Thema sachlich umgehen und Straftaten verfolgen. Aber Vergleiche mit 1938 bringen uns nicht voran.

Im Tagesspiegel schrieben Sie im Sommer 2014 einen Artikel mit dem Titel „Muslime sind die neuen Juden“. Da kann man Ihnen ja auch vorwerfen …

… zu übertreiben, ja. Aber ich betone in dem Artikel, dass Muslime nicht in so einer Lage sind wie Juden vor der Schoah – das schreibe ich explizit. Nicht, dass mir jemand noch Holocaustrelativierung vorwirft. Mein Ziel war, die Ähnlichkeiten von den heutigen antimuslimischen Argumenten und den antisemitischen Argumenten des 19. Jahrhunderts herauszustellen.

Können Sie ein Beispiel geben?

Zum Beispiel wurde die Rückständigkeit der Juden im 19. Jahrhundert oftmals mit Auszügen aus dem Talmud begründet – völlig aus dem Kontext gerissen. Heute haben wir „Islamkritiker“, die bestimmte Stellen aus dem Koran zitieren, um zu beweisen, dass die Werte von Muslimen nicht mit der Demokratie vereinbar sind.

Was müsste in Deutschland passieren?

Wenn wir ein säkularer Staat sind, dann sollten nicht nur die Kirchenglocken läuten, sondern auch der Muezzin zum Gebet rufen dürfen. Außerdem sollte man Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen betrachten und bekämpfen. Der Antisemitismusbericht des Bundestages besagt, dass ein Fünftel der Bevölkerung hier antisemitische Vorurteile pflegt. Aber wir sprechen nur darüber, ob Neukölln eine No-go-Area ist. Warum reden wir über Muslime, aber nicht über den Rest?

In der taz schrieben Sie im November 2015, dass der Zentralrat der Juden sich umbenennen sollte in den „Zentralrat der rassistischen Juden“ – dafür haben Sie sich später entschuldigt. Josef Schuster hatte über eine Obergrenze bei Flüchtlingen gesprochen, weil er einen Anstieg des Antisemitismus befürchtete.

Ich habe Josef Schuster nur wegen seiner Begründung kritisiert, mit der er eine Obergrenze gefordert hat. Er hat gesagt, Antisemitismus sei ein ethnisches Problem unter den Geflüchteten. Er hat damals nur Applaus von Lutz Bachmann bekommen, dem Initiator von Pegida.

Aber Sie wurden wegen Ihres Umgangs mit den Medien vom Abraham Geiger Kolleg geworfen, wo Sie Ihre Ausbildung zum Rabbiner begonnen hatten. Das Institut hat ja einen sehr liberalen Ruf.

In Bezug auf religiöse Gesetze ist das Institut liberal. Es stört sie nicht, wenn ein Student Schwein isst, es stört sie auch nicht, wenn der Student das öffentlich erzählt, aber politisch sind sie nicht viel progressiver als der Zentralrat selbst.

Wie geht es jetzt für Sie weiter nach dem Rauswurf?

Vor meinem Rauswurf führte ich mit mehreren Gemeinden Gespräche über meine zukünftige Einstellung als Gemeinderabbiner: Ich werde sie nicht im Stich lassen und werde meine Ausbildung fortsetzen. Ich bin bereits im Kontakt mit einem anderen Rabbinerseminar in Europa, das mit offenen Armen auf mich wartet. Berlin zu verlassen wird mir aber sehr schwerfallen, auch wenn das nur temporär wird. Es gäbe noch so vieles in Deutschland zu tun!

Manche behaupten, Sie seien ein sich selbst hassender Jude.

Das wurde vielen Helden vor mir vorgeworfen, Hannah Arendt zum Beispiel. Ich fühle mich dadurch nicht beleidigt.

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