Artenvielfalt in der Stadt: Safari im Dschungel

Die Hot Spots der Artenvielfalt finden sich nicht auf dem Land. Je größer die Stadt, desto größer die Biodiversität.

Ein Fuchs steht in Berlin-Kreuzberg. Bild: dpa

DEUTSCHLAND zeo2 | Wenn die „Landlust“, die Mutter aller Landliebe-Postillen, über die Feldlerche schreibt, liest sich das so: „Ihr Gesang ist der Inbegriff des Frühlings. Die unscheinbare Feldlerche lebt in unserer Ackerflur (…). Sie berührt uns mit ihrem Gesang (…). Sie ist ein Charaktervogel der Agrarwirtschaft.“ Klingt zu schön, um wahr zu sein. Ist auch zu schön. Denn die Feldlerche ist eine gefährdete Vogelart, seit 2007 auf der Roten Liste.

Warum, das weiß die Landlust-Redaktion genau. Ihr Münsteraner Verlag publiziert hauptsächlich Fachzeitschriften für Landwirte wie „Top-Agrar“. Darin geht es um Düngemittel, Pestizide, 360 PS-Mähdrescher mit Xenon-Vorfeldbeleuchtung für den Nachteinsatz – jene Accessoires der Intensiv-Landwirtschaft, die den Lebensraum des kleinen, ruhebedürftigen Vogel zerstören. Das Schicksal der Feldlerche ist symptomatisch für die Vogelwelt.

Ornithologen haben deutschlandweit belegt, dass ländliche Gebiete viel ärmer an Vogelarten sind als städtische. Sie haben sogar eine Gleichung für das Phänomen der Arten-Areal- Beziehung aufgestellt: S = C AZ. Übersetzt: Je größer die Stadt, desto mehr Vogelarten sind vorhanden – mit exponentiellen Steigerungsraten. Und was für Vögel gilt, gilt tendenziell auch für Insekten oder Säugetiere: Viele, gerade auch vom Aussterben bedrohte Arten, sind in der Stadt wesentlich zahlreicher als gemeinhin vermutet.

Auf dem Stadtbalkon summen Wildbienen von der roten Liste, in den Straßen begegnet man nicht nur Hunden und Katzen, sondern vielleicht auch Mardern und Waschbären. Der vom Aussterben bedrohte Juchtenkäfer krabbelt durch die Wipfel alter Platanen im Stuttgarter Stadtpark, umtost vom Lärm mehrerer Schnellstraßen. In München haben sich Biber an der Isar, direkt am Deutschen Museum, eine Burg errichtet. Und auch das kommt vor: Ein Wanderfalke packt eine Taube, die er vor den entsetzten Stadtmenschen verhackstückt und herunterschlingt. 

Am Central Park nisten Bussarde

Ausgerechnet in den Betonschluchten von New York soll es laut amerikanischen Naturschützern „die höchste Dichte von Wanderfalken weltweit“ geben, in den nördlichen Stadtteilen siedeln sich wieder Kojoten an, am Central Park nisten seit 1990 Rotschwanzbussarde, deren scharfer Ruf (kree-eee-ar) sonst nur im Western zu hören ist.

„Die Vorstellung, dass mit zunehmender Stadtgröße die Natur rausgedrängt und in den Millionenstädten schließlich ganz vernichtet wird, ist völlig falsch“, betont der Münchner Stadtökologe Josef H. Reichholf, der ein dickes Buch über „Stadtnatur“ verfasst hat. Die Stadtgrenze sei „längst nicht mehr das Ende, sondern oft der Anfang von Natur.“ Bester Beleg für Reichholfs These ist Deutschlands größte Stadt Berlin.

Hier leben zwischen Müggel- und Wannsee nicht nur 3,3 Millionen Zweibeiner, sondern auch 20.000 Tier- und Pflanzenarten. Von der Alge bis zum Großsäuger ist alles dabei: 8.000 Wildschweine haben Stadtökologen gezählt, 3.000 Steinmarder, 1.600 Füchse und 100 Waschbärfamilien, außerdem Rehe, Wiesel, Feldhasen, Fischotter sowie zwei Drittel all jener Brutvogelarten, die zwischen Alpen und Nordsee überhaupt die Lüfte bevölkern.

Was ist passiert, dass Städte, Großstädte zumal, für Tiere, egal ob Säuger, Vögel oder Schmetterlinge, mindestens so attraktiv sind wie für Menschen? Und um sie herum immer mehr Arten vom Aussterben bedroht sind? Metropolen bieten ein buntes Mosaik von Lebensräumen Eine Tour mit Google Earth übers Land, und man findet Antworten. Aus der Vogelperspektive zeigt sich fast ein Drittel des Landes in Förstergrün. Von Romantikern als Wald bezeichnet, wachsen hier allerdings überwiegend Monokulturen mit in Reih und Glied gepflanzten Fichten (im Süden des Landes) und Kiefern (im Norden).

Urwälder mit über 150 Jahre alten knorrigen Bäumen, in denen bedrohte Insektenarten wie der Juchtenkäfer Unterschlupf finden, durften nur auf gut zwei Prozent der Waldfläche stehenbleiben. Hier liegen die Hotspots der Natur – nicht aber im Forst. Und erst recht nicht in der „Kulturlandschaft “ drumherum. „Kulturlandschaft“ bedeutet fast überall Landwirtschaft mit Äckern und Weiden, die mit Gülle und Chemie bewirtschaftet und auch bejagt werden. 

Jedes Tierchen findet sein Pläsirchen

Das Bundesamt für Naturschutz hat die Intensiv-Landwirtschaft neben der Zersiedelung der Landschaft als Hauptverursacher des Artensterbens identifiziert. Den wichtigsten Grund, warum Tiere dafür nun so zahlreich in Städten leben, teilen sie mit den Menschen. „Inseln der Vielfalt“ nennt Reichholf die Großstädte, denn sie bieten ihren Bewohnern ein buntes Mosaik an Lebensräumen und Verstecken: Ob Gärten, Parks, Verkehrsinseln, Dachterrassen, städtische Alleen oder ruhige Hinterhöfe. Jedes Tierchen findet hier sein Pläsirchen. Und jedes Pflänzchen obendrein.

Ein weiterer Grund: Außer auf besonderen Rasenflächen wird auf urbanen Grünflächen nicht gedüngt und kaum gespritzt. Das goutieren alle – von der Raupe bis zum Wildschwein. Zudem sind die Städter den Tieren meist zugetan und bremsen gerührt, wenn eine Entenfamilie über die Straße watschelt. Pale Male, der Stammvater der New Yorker Bussard-Dynastie, und seine Nachkommen sind die Stars der Fifth Avenue. Die echten Hot Spots der Artenvielfalt finden sich nicht auf dem Land – sondern da, wo viele Menschen leben. Je größer die Stadt, desto größer die Biodiversität.

Katja Trippel, der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeo2 3/2013.

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