Arzt über Gespräche mit Sterbenskranken: „Lernen, in sich zu fühlen“

Wie redet man mit Patienten, die unheilbar krank sind? Wie thematisiert ein Mediziner das Sterben und fragt sie nach ihren Plänen für die verbleibende Zeit?

Vertrocknete Blätter liegen auf einer Holzunterlage

„Wir als Ärzte müssen den hohen Sockel verlassen und auf Augenhöhe mit den Patienten reden“, sagt der Mediziner Christian Grah. Foto: Dirk70/photocase

taz.am wochenende: Herr Grah, sie behandeln seit Jahrzehnten LungenkrebspatientInnen. Wie gehen die meisten Ihrer Patienten mit der Diagnose „unheilbar“ um?

Christian Grah: Natürlich sehr unterschiedlich. Viele verzweifeln oder verdrängen. Aber es gibt immer wieder Menschen, bei denen angesichts des Todes Erstaunliches entsteht. Die sich dieser existenziellen Auseinandersetzung wirklich stellen: Was mache ich denn in der Zeit, die mir noch bleibt?

Ist das nicht auch manchmal sehr schwierig und deprimierend für Sie als Arzt, der ja eigentlich heilen will?

Nein, überhaupt nicht. Diese Beschäftigung damit hat mich immer mehr entdecken lassen, was für einen Kosmos an Vielfältigkeit es gibt unter uns Menschen. Ich würde schon sagen, es hat die Sinngebung meines Berufs immer mehr verstärkt. Mit jedem Jahr erlebe ich immer stärker, welcher Vorzug es ist, Menschen zu helfen, diese Sinnfragen stellen zu üben – also quasi Geburtshelfer dafür zu sein. Geburtshelfer für den eigenen Sinn im Leben in dieser wirklich schwierigen Krisenphase. Es ist für mich wirklich so, dass ich die Erfahrung habe, dass das, wenn es gelingt, eine Neugeburt der eigenen Persönlichkeit ist.

Jahrgang 1960, leitet das Lungenkrebszentrum am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin. Einer seiner Patienten war der Theaterregisseur Christoph Schlingensief.

Eine Neugeburt im Angesicht des Todes?

Ja, denn ich sehe es als meine Aufgabe an, die Patienten so zu unterstützen, dass wir als Ärzte und Pflegepersonal hinhören lernen: Was braucht der andere jetzt, was braucht der Betroffene? Dass es also nicht nur um das möglichst optimale Reinträufeln von Chemotherapie geht oder auch die bestmögliche Operation – die selbstverständlich gewährleistet sein muss –, sondern häufiger auch Fragen zu stellen: Wo willst du denn noch hin, was ist dir denn noch wichtig? Das ist für mich ein wichtiges Motiv im Begleiten von Patienten, die eine endliche Lebenszeit vor sich haben, viel endlicher als sie es sich vorgestellt haben. Dass man irgendwie lernt, in sich zu fühlen. Das hält auch uns oder mir persönlich immer wieder den Spiegel vor: Was ist wirklich wichtig in meinem Leben? Und ich würde schon sagen, die mitunter wichtigsten Fragen in meinem Leben habe ich von meinen Patienten gehört. Weil die mir das natürlich zeigen.

Aber für diese Begleitung und diese Gespräche braucht man ja sehr viel Zeit. Zeit, die die meisten Ärzte gar nicht haben oder die ihnen nicht vergütet wird.

Ja, das ist eine Frage unseres Medizinsystems. Lässt es das zu? Genauso wie wir die Todesfrage in unserer Gesellschaft verdrängen, kann auch der Mediziner diese Frage komplett aus seinem Leben verdrängen. Insofern ist für mich Medizin auch immer so ein bisschen ein Brennglas der Gesellschaft. Wir alle sind ja der Endlichkeit ausgeliefert und verdrängen es. Und krebskrank werden, das heißt plötzlich: Ich kann es nicht mehr verdrängen. Und jetzt ist die Frage: Verdrängen wir es nicht kollektiv, dass wir alle sterben müssen?

Die Möglichkeit des Todes wird in der Krebsbehandlung noch viel zu oft nicht offen ausgesprochen?

Ja, auch das geschieht in Krebszentren. Und auch mal schnell bei uns, dass man nicht offen die Frage stellt: Wie möchtest du sterben? Es kann sein, dass das Leben nicht mehr sehr lange währt und wie soll denn die Therapie dann fortgeführt werden? Und wann soll sie auch enden? Wir nennen das das Therapie-Begrenzungs-Gespräch. Dass die Betroffenen auch für sich sagen, was für einen Sinn sie in der Therapie sehen oder auch überhaupt: Was sie für einen Sinn im Leben sehen.

Warum ist das so wichtig?

Was dem Betroffenen gut tut, kann nur er selbst entscheiden. Wir als Ärzte müssen deswegen den hohen Sockel verlassen und auf Augenhöhe mit den Patienten reden. Diese Techniken haben wir bisher in der Onkologie nicht systematisch entwickelt. Patienten müssen kompetent werden und sollen sich nicht als Objekt einer Medizinmaschinerie ausliefern. Sie sollen zum Beispiel wissen, dass eine Chemotherapie oft nicht heilt, sondern nur verlängert. Es geht nicht nur um Quantität, sondern um die Qualität der Zeit, die noch bleibt. Zum Kranksein gehört ja auch ganz viel Leben.

Wir sollten also hinhören lernen, was die Kranken zu sagen haben über das Leben?

Ja, genau. Ich hatte einen für mich wichtigen Patienten – Christoph Schlingensief. Der schreibt in seinem Buch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“, dass bei dem Kranken wieder Antennen angehen. Das ist ein Begriff von Beuys, den er übernommen hat. Beim Kranken fangen Antennen wieder an zu funken, die stumm waren. Und mit diesen Antennen baut er als Kranker an der Gesellschaft mit. Bei Christoph Schlingensief konkret war das: Eigentlich muss ich dahin gehen, wo die Menschheit herkommt, also nach Afrika – und muss gucken, wie ich da was Gesundes hinbringen kann. Aber nicht, indem ich als Weißnasentyp und als Besserwisser hingehe, sondern indem ich helfe, dass die an ihre Kreativität anschließen. Deswegen das Operndorf im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs. Das ist dann die Energie, die man hinterlässt. Und die ist nicht sterblich.

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