Aus der zeozwei: „Wir wollen Hasen nur streicheln“

Die Aufregung über eine Ernährung ohne Fleisch oder tierische Produkte ist anhaltend groß. Dabei sind Veganer doch ganz friedlich.

Mehrere junge Menschen essen Fast Food

Vegane Restaurants sind derzeit der Renner Foto: Anja Weber

Als im Frühjahr in Berlin ein Imbiss eröffnet wurde, wollten das achthundert Leute sehen. Gut dreihundert Leute standen in dem Laden, der ungefähr so groß ist wie eine Zweiraumwohnung. Rund fünfhundert standen davor, auf der Karl-Marx-Straße, Handyshops und Backshops zu beiden Seiten, Sexshops, Tankstellenshops. Zum nächsten McDonald’s läuft man ein paar Meter. Zum nächsten Friedhof über die Ampel.

Die Polizei rückte an, um den Bordstein zu räumen. Eine Polizeisprecherin sagte: »Es war einfach zu voll.« Sie wurde im Tagesspiegel zitiert. Die Süddeutsche berichtete. Die Frankfurter Allgemeine. »Polizei löst Menschenmenge in Neukölln auf« – für einen Diner.

Einen veganen, den »Dandy Diner«: Burger ohne Fleisch, Sandwich ohne Ei, Chia-Pudding als Dessert. Die Betreiber, ursprünglich Mode-Blogger, hatten mit Freigetränken geworben; die Angestellten trugen Hütchen und pinkfarbene Schürzen, auf die ein lachendes Schwein gedruckt ist. Es wurde geprostet und gepostet, Pommes, Cin Cin, Flashmob- und Moralfragen-Flair: Verzichtest du schon – oder tötest du noch?

Verbalangriffe und Hasskommentare

Als im Sommer am Strand von Nizza 84 Menschen umgebracht wurden (14. Juli) und in der Türkei das Militär putschte (15. Juli), schrieb Sibylle Berg eine Kolumne, die »Kein Fleisch essen ist besser als Sex!« heißt. Sie wurde rund sechshundert Mal auf Spiegel Online kommentiert, die Verbalangriffe häuften sich: »Überbordender Narzissmus einer Autorin, die Nazis und Antisemiten verspeisen möchte.« – »Wenn die ersten Menschen Veganer gewesen wären, säßen wir heute noch im Baum.« – »Unsere Ahnen begannen, Fleisch zu essen. Daraufhin wuchs ihr Gehirn.« Die CDU-Bundestagsabgeordnete Gitta Connemann forderte eine Ernährungsberatung für Schwangere – auch, weil sie meinte, vegane Ernährung müsse »ergänzt werden«. Etwa: um Vitamin B 12.

Gibt’s keine anderen Probleme – oder was regt manche an Veganern eigentlich immer noch so tierisch auf?

Wenige Wochen vor dem Amoklauf in München, bei dem neun Menschen umgebracht werden (22. Juli), zehn Gehminuten vom Isartor. In der Stadt ist es ruhig und so heiß, dass kaum jemand die Terrassentische der Cafés nutzt. Suzanne Petzoldt könnte friedlicher nicht aussehen, barfuß öffnet sie ihre Wohnungstür, die langen Haare offen, Blümchenkleid an. 23 und so frisch, als sei sie ihren Selfies entstiegen, von denen sich online viele finden. Sie hat einen Blog, einen YouTube-Kanal, sie ist bei Facebook, Twitter und Instagram, auf einem ihrer jüngsten Fotos hält sie Blaubeeren in der Hand. »God how much I love blueberries«, steht darunter. »#vegan #surfergirl #model #foodporn #love #fun #smile.« 152 Likes.

Suzanne sagt: »So’ne Riesenschüssel Salat – es gibt nix Geileres.« Seit Jahren mixt sie sich morgens grüne Smoothies. Zwischen 6 und 7 Uhr steht sie auf, »früher als andere«, dann meditiert sie, macht oft noch Yoga oder »Freeletics«, Trainingseinheiten, die ihr eine App vorgibt; dann »dry body brushing« – mit einer Holzbürste streicht sie über ihre Haut, »zum Herzen hin, für den Kreislauf«. Anschließend trinkt sie einen halben Liter heiße Zitrone. »Das entschlackt.«

Essstörung ein Leben lang

Suzanne sitzt da, vor weißen Möbeln, vor Orchideen, die braunen Beine überschlagen und neben sich ein »Moodboard«, eine Pinnwand voller Postkarten und Zeitschriftenausrisse, die sie »froh stimmen«. Aufnahmen aus dem Ozean, Surfbretter, Wale. »Wieso man so aussieht und wie man besser aussieht«, sagt sie, hat sie sich das erste Mal mit 15, 16 gefragt. Als ihr die Frauen und Männer auf den Straßen auffielen und wie viel sie auf ihr Äußeres gaben. Wie ordentlich die waren. Wie dünn.

17 war sie, als sie ihrer Mutter sagte, sie behalte seit einer Weile ihr Essen nicht mehr drin. Hungern, Reinschlingen, Rauskotzen, der ewige Kreislauf. Ein Tag, an dem sie mehr als fünfhundert zugeführte Kalorien zählte, war ein schlechter. Er forderte Bestrafung, Hungern. Rauskotzen. Die erste Therapeutin, die Suzanne in einer Klinik besuchte, wollte sie nicht nach Hause lassen. »Aus der Bulimie kommst du allein nicht raus«, sagte sie, eine Binsenweisheit: Nicht allein und nie ganz, heißt es ja. Eine Essstörung behältst du ein Leben lang.

Vielleicht hat Suzanne sie behalten, vielleicht hatte sie eine »milde Form« – sie sagt, es gehe ihr gut. Als die Therapeutin sie in der Klinik behalten wollte, blieb sie nicht. Sie ging nach Hause und bestellte sich ein Buch, Skinny Bitch, den US-Bestseller mit der schier taillenlos gezeichneten Frau auf dem Cover, Die Wahrheit über schlechtes Essen, fette Frauen und gutes Aussehen. Ein 272-Seiten-Aufruf, bio, saisonal und regional einzukaufen – und auf Schnelldiäten zu verzichten. Vergesst Low-Carb! Und bleibt trotzdem heiß.

Dieser Text stammt aus zeozwei, dem taz-Magazin für Klima. Kultur. Köpfe. Die neue Ausgabe „Entschleunigen ist auch keine Lösung“ gibt es jetzt am Kiosk oder im tazshop. Oder gleich richtig mitmachen: 20 Euro für ein Jahresabo mit Prämie.

Ab da sog Suzanne Wissen in sich auf. Sie informierte sich über Massentierhaltungen und Industrienahrungsmittel, hatte Rückfälle, probierte doch noch eine Diät, eine weitere, Rauskotzen, eine noch, raus hier. Sie versuchte es mit der Radikalumstellung, war ab sofort: vegan – und machte nach dem Abi das, »was alle machen: Work and Travel in Australien«. Vegan, dachte sie: »Die nächste Diät.« Dann fühlte sie sich besser, »irgendwie«, draußen im Outback. Nicht leichter, aber leichtlebiger.

Erholung in Australien

Suzanne nahm in Australien drei Kilo zu. Als sie zurückkam, sagten ihr viele, sie sei wie ausgewechselt. Dann kamen die Fragen:

Du bist also vegan?

Und woher kriegst du deine Proteine?

Was isst du überhaupt?

Was ist mit Vitamin B 12?

Fehlen dir keine Mineralien?

»Komisch«, sagt Suzanne, die Haare jetzt zum Dutt gebunden. »Die Leute interessieren sich nicht für deine Gesundheit, bis du sagst, du bist vegan.« Sie verlor Freunde, weil die Verurteilungen »zu nervend« und die Hobbys »zu verschieden« wurden. »Vieles erledigt sich von selbst.«

Fünf Jahre liegt das zurück. Heute ist Suzanne im letzten Semester Anglistik und hat vegane Eltern und einen veganen Freund. Ein Segen, wie sie sagt, an fleischessenden Männern meint sie ein »unangenehmer Körpergeruch« zu stören. »Irgendwie nach Schweiß?« Sie hat Hafermilch und Bioapfelsaft in ihrem Kühlschrank, Leinsamen, Hanfsamen und »Superfoods« im Regal: MSM-Pulver, Methylsulfonylmethan – organischen Schwefel. »Gut für die Haut.« Maca-Pulver. »Gut für die Hormone.«

Soll sie: der Prototyp der »Instagram-Hölle« sein? Einer ideologiefreien Jugend?

Eine Trend-Bewegte? Die das Klischee jener schönen und sauberen Veganer prägt, die ihre sozialen Medien genauso pflegen wie ihre Yoga-Körper? Denen das öffentlich präsentierte Glück schwer abzunehmen ist, die Berührungsängste aufbauen, was soll der Smoothie-Scheiß; überhaupt: Wenn man wirklich glücklich ist – warum muss man es dann zeigen?

Nur hier gibt es wahrhaft glückliche Schweine Foto: Anja Weber

Auf dem Podium der CSU

Suzanne saß vor Kurzem »mit ’nem Biobauern« auf einem Podium der CSU und hat mit ihm über Ernährung diskutiert. Auf YouTube nennt sie die drei Gründe, aus denen man vegan wird: Umweltschutz, Tierschutz und Gesundheit. Den »Dandy Diner« in Berlin, sagt sie, würde sie sich »auf jeden Fall mal anschauen«. Klar, »wenn der vegan ist«.

Warum nicht?

»Vor einigen Jahren kam man sich noch vor wie der wandelnde Vorwurf.« Sagt Gerald, Gerald Mandl. Aus Österreich, zieht die Vokale ein bisschen, »Voor-wurf«. »Dass man sich konsequent anders ernährt, war für manche schon ein Problem.« Heute, immerhin, wisse man »mit Veganismus etwas anzufangen.«

Seine Freundin, am Tisch gegenüber, nickt.

Er, Anfang vierzig. Jeans, Turnschuhe. Elf Jahre in der Mediengruppe Telekommander gespielt, als der eine Teil des Musikerduos. Viel getourt, viel gesehen, selten geblieben. »Damals war es gut.« Die Band traf einen Nerv, den Kapitalismusnerv. Trend, heißt ein Song. Einmal gehört, brennt sein Refrain sich ein. »Voor-sicht, ein Trend geht um. Du brauchst Veränderung.« War längst Vegetarier, als er dieser Frau über den Weg lief. Blond, tätowiert.

Sie, Anfang vierzig. Jeans, Turnschuhe. Krawalla, der Name sagt es: kommt »über die Antifa« – zu wenig des Engagements, fand sie. Betrieb als Jugendliche also Tierschutz, bereiste als Musikerin Kontinente. Hat viel gesehen. War gerade ausgezogen, 1992, »gerade selbstständig«, als sie sich entschied, vegan zu leben. Wollte »mal eine Woche ausprobieren, ob das überhaupt geht: möglichst ohne Tierausbeutung«. Sie blieb dabei.

Gerald zog bei ihr ein, in die vegane WG – als Vegetarier. Es gab Diskussionen.

Echt jetzt? Nie wieder Käse?

»Anfangs hatte ich Abwehrreflexe«, sagt er. »Dann macht es ›klick‹ und dir wird bewusst, dass du auf deinem Teller eine politische Entscheidung triffst.«

»Man muss diese Matrixpille nur einmal schlucken«, sagt sie. »Schon öffnet sich eine andere Perspektive.«

Gerald und Krawalla, ein Berliner Paar. Sitzen im Vux, das 2009 als eines der ersten Cafés in Berlin rein vegan war. Er trinkt Kaffee, sie isst Kuchen.

Immer wieder erklären

Beide sagen, der Kreis an Leuten, mit denen sie »wirklich« zu tun hätten, habe sich enorm reduziert. »Ich hab keine Lust, die Basics immer wieder neu zu erklären«, sagt Krawalla. Dass es veganen »Kochbuchstars« wie Attila Hildmann vor allem ums Geld verdienen gehe. Plötzlich sei alles »fit, fun und sexytime«. Beide halten die Ursprungsidee von Veganismus für »verwässert«, verkommen zu einem Hype.

»Dient der Selbstveredelung«, sagt Gerald.

»Ich halte es für esoterisch und auch gefährlich«, sagt Krawalla, »wenn Leute, die eine Woche vegan sind, verkünden, sie seien von Krankheiten blitzgeheilt.«

»Der Kapitalismus klatscht in die Hände über diesen neuen elitären Markt, der ständig neue Produkte braucht«, sagen sie. »Es ist wie bei Bio. Mittlerweile hat jeder Supermarkt scheinbar sein eigenes Logo.« Resignation in den Gesichtern – die Bewegung, Berlin, ist ihnen fremd geworden. Seit einer Weile haben sie einen Kleingarten ein Stück außerhalb der Stadt. Dort sind sie lieber als im Zentrum, dort haben sie 14 Bäume für sich, Kirsche, Aprikose, Pflaume, Pfirsich, Mandel, sie bauen Mangold und Tomaten an. Einmal haben sie die Nachbarn aus der Kolonie zum Essen eingeladen, »Spanferkel«, da haben sie abgelehnt. Krawalla lacht.

Sollen sie: Radikale sein? Schlechte-Gewissen-Verursacher? Die Gutmenschen der Gesellschaft, die für ihre Überzeugungen konkretere Worte finden als jene großen Vertreter der Fleischlosen, die eher vorsichtig für den Erhalt ihrer Umwelt plädieren: Der New Yorker Schriftsteller Jonathan Safran Foer etwa, der in Tiere essen beschrieb, wie er durch den Berliner Zoo schlenderte, durch die riesigen Scheiben des Aquariums schaute und über den »Anblick von gebärenden Männchen« staunte: »Eine Wolke trüber Flüssigkeit schießt aus der Brusttasche, und wie durch Zauberei tauchen plötzlich winzige, voll ausgebildete Seepferdchen auf Foer, der nie fragt, was er eigentlich fragt: Wollen Sie wirklich riskieren, dass dieser Zauber irgendwann aufhört? Wie leben Sie überhaupt so mit der Vorstellung, das Ende der Seepferdchen zu verantworten?

Sibylle Berg, die in ihrer Kolumne schrieb: »Ich kann nur leise raunen, dass das Leben auch ohne Fleisch Spaß machen kann.« Karl Ess, Bodybuilder und YouTuber, dessen Fitnessvideos es auf gut eine Million Aufrufe schaffen – 1,84 Meter, 92 Kilo, stemmt 180 Kilo beim Bankdrücken –, der am Telefon sagt: »Ganz ehrlich: Bis vor ein paar Jahren hieß es noch, du bist voll die Pussy, wenn du vegan bist. Ich bin schon froh, wenn ich das heute nicht mehr zu hören kriege.« Der nicht sagt, was er eigentlich sagt: Leute, checkt es halt. Ein Sportler, der vegan ist, hat nachgedacht – und ist trotzdem ein Mann.

Foer schreibt: »Fleisch ist verbunden mit der Frage, wer wir sind und wer wir sein möchten, vom Buch Genesis bis zum neuesten Agrargesetz. Wenn wir einen Teil unseres Wesens leugnen wollen, sprechen wir von unserer ›animalischen Natur‹.«

Und, hätten Sie’s gewusst:

»Seepferdchen paaren sich gern bei Vollmond und geben dabei musikalische Laute von sich.«

Fleisch essen ist die Norm

Krawalla und Gerald könnten mit 2,1 Tonnen klimarelevanter Emissionen argumentieren, die ein Mensch durchschnittlich mit seiner Ernährung zu den Treibhausgasemissionen beiträgt – laut Bundesumweltministerium jährlich, allein durch privaten Konsum.

Sie könnten denen, die Fleisch essen, »Gewohnheit« vorwerfen. Dass Fleisch essen die Norm ist, nicht erst seit Jesu Christi. Standard unter den Römern, Sehnsuchtsmittel im Krieg, Wohlstandsäußerung der Fünfziger, bis heute geprägt von Ritualen. Der Döner nach dem Club. Die Currywurst im Freibad. Dort isst man keine Kuh, da kein Schwein, woanders nur koscher. Und, hier jeden Sonntag: Mein Blut, das für euch vergossen wird.

Sie fragen: »Warum gelten wir als radikal? Weil wir Hasen lieber streicheln als essen?«

Und so ein bisschen fremd, wie Berlin für sie geworden ist, bewegen sich Gerald und Krawalla dann auch durch den Kiez. Er packt seinen Rucksack, sie hakt sich bei ihm ein. So gehen sie über das Kopfsteinpflaster, weg aus dem Vux, wo noch nicht ignoriert wird, wofür sie mal härter gekämpft haben – ihrem Refugium inmitten eines aufgekratzten Neuköllns, der Wiege des Hypes. Jenem Ort, an dem man schnell mit den Schultern zuckt. Wo man die Been-there-done-that-Attitüde und amerikanisches Englisch liebt, bisweilen nicht mal ein Fragezeichen in die Stimme legt. »Really, that’s so last spring.«

Zwei Kilometer weiter, wo im April all die Leute standen, im Dandy Diner, steht jetzt fast keiner. Besetzte Tische: drei. Es ist ein Samstagabend im Hochsommer und durch die deckenhohen Ladenfenster, die zur Seite geschoben sind, wärmt noch die Sonne. Es gibt Wasser mit Minze, Burger mit Babyspinat. Karamellisierte Zwiebeln. Und Brötchenhälften, so dick mit Avocadocreme bestrichen, dass sie aufs Tablett trieft.

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