Autor über trinkende Politiker: „Politiker sind vorsichtiger geworden“

Früher wurde in Westminster gesoffen, heute bleiben viele Politiker lieber nüchtern. Ben Wright hat ein Buch über das politische Trinken geschrieben.

Boris Johnson hält ein Glas Bier in die Luft und grinst es an

Steht zu seinem Genuss: Politiker Boris Johnson Foto: dpa

taz: Herr Wright, ich erreiche Sie am Telefon und muss gleich mal fragen: Trinken Sie gerade ein Pint?

Ben Wright: Das ist eine freche Frage!

Es ist der Moment der Wahrheit.

Okay, meine Entschuldigung ist: Ich habe gestern sehr lange gearbeitet, es ist mein freier Tag, es ist 5 Uhr am Nachmittag, und – ich kann nicht glauben, dass Sie mich erwischt haben – ich habe gerade eben eine Flasche amerikanisches India Pale Ale geöffnet. Aber es ist ein kleines!

Für diese Gelegenheit habe ich mir auch eine Flasche Bier an den Schreibtisch geholt, sonst mache ich das auch nicht. Herr Wright, für Ihr Buch „Order, Order! The Rise and Fall of Political Drinking“ haben Sie recherchiert, welche Rolle Alkohol in der Politik hat. Mit wem würden Sie jetzt gerade gern einen Drink nehmen?

Boris Johnson ist im Moment die Person in der britischen Politik, mit der jeder offen über seine Ambitionen sprechen möchte. Wann will er Premierminister werden? Wie wird er das angehen, was denkt er wirklich über den Brexit? Ich habe ihn für das Buch interviewt, und er ist einer der seltenen offenen Anhänger des Alkohols. Er denkt, es ist im Großen und Ganzen eine gute Sache, macht das Leben angenehmer, er denkt, Politik macht damit mehr Spaß. Im Moment würde ich mich gern mit ihm bei einem Drink hinsetzen und ihn ganz offen fragen, was er im Schilde führt.

lebt in London und arbeitet dort seit 2008 für BBC. Zuvor war der Journalist als Korrespondent in Washington und Brüssel tätig.

Das Buch: „Order, Order! The Rise and Fall of Political Drinking“ Duckworth Ltd., 368 Seiten

Sie zitieren Johnson in Ihrem Buch, wie er sagt, er trinke manchmal eine „gewaltige Menge“. Ist er damit eine Ausnahme?

Er ist ein ehemaliger Journalist, also hatte er sein Training. Es ist Teil seiner Anziehungskraft auf Menschen – und auch sein Risiko. Johnson hat keine Angst, recht offen über seinen Lebensgenuss zu sprechen. Aber als ich ihn für das Buch interviewt habe, sagte er ebenso, dass Alkohol ein trügerischer Freund für einen Politiker ist. Alkohol macht die Plackerei der Politik erfreulicher, die endlosen Meetings und Empfänge erträglicher. Aber: Wegen Betrunkenheit kannst du wirklich in Schwierigkeiten geraten. Es ist eine Gratwanderung.

Ein Pressechef des ehemaligen Premiers Gordon Brown sagte mal, das Regierungsviertel Westminster sei die „Komasauf-Hauptstadt Großbritanniens“. Stimmt das noch?

Das war Damian McBride, Premierminister Gordon Browns Kampfhund. Er war ein Westminster-Strippenzieher alter Schule, der Beziehungen mit Journalisten bei sehr langen Mittagessen und heftigen Nächten in Pubs pflegte. Aber ich denke, es ist keine faire Beschreibung mehr vom heutigen Westminster. Es gibt bestimmte Abende, im Wesentlichen Donnerstage, wenn das Ende der Woche in Sicht ist, da sind die Bürgersteige rund um die Pubs von Westminster voll mit ReferentInnen, BeraterInnen und BeamtInnen. Es sind nicht immer die PolitikerInnen. Die sind vorsichtiger, gesundheitsbewusster geworden, sie arbeiten oft härter, es ist jetzt ein arbeitsamerer Menschenschlag.

Was hat sich geändert?

Vor 40, 50 Jahren hatten die meisten Abgeordneten wirklich nichts zu tun, und sie waren nicht viel Kontrolle ausgesetzt. Sie repräsentierten Wahlkreise, die als sicher für die jeweilige Partei galten. Sie waren nicht wirklich von Bedeutung, solange sie durch die Abstimmungsräume im Parlament schwanken konnten, um zu tun, was ihnen gesagt wurde, und für ihre Partei abzustimmen. Heute sind die ParlamentarierInnen außerordentlich beschäftigt mit großen Mengen Wahlbezirksarbeit, sie sind den ganzen Tag auf Twitter, sie betreiben alle 24-Stunden-Medienkampagnen – sie haben einfach keine Zeit, den ganzen Tag trinkend in Pubs und Parlamentsbars zu sitzen. Außerdem sind die Zeiten weniger männlich: Als ich Parlamentarier dar­über befragt habe, sagten viele, dass eine große kulturelle Veränderung im Jahr 1997 kam, als viele Frauen gewählt wurden und Tony Blair bei den Wahlen seinen Erdrutschsieg hatte. Viele Frauen hatten junge Familien, sie kamen nicht aus einer Trinkkultur, sie wollten so nicht ihre Zeit verbringen. Das veränderte die Atmosphäre ziemlich.

Was war denn die goldene Zeit des politischen Trinkens?

Es kommt darauf an, ob Sie exzessives Trinken für eine gute oder schlechte Sache halten. Das letzte Mal, als es wirklich wild war, waren wahrscheinlich die 1970er Jahre. Die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, die mit gutem Gedächtnis und starken Lebern, erinnern sich an nächtelange parlamentarische Sitzungen. Abgeordnete waren also im Unterhaus bis 3 oder 4 Uhr nachts, die Bars hatten so lange geöffnet. Labour-Politiker aus Working-Class-Bezirken mit Schwerindustrie, bei denen die Trinkkultur einen Teil ihres Backgrounds ausmachte, brachten diese Kultur mit nach Westminster. Die konservativen Bars konnte man voll mit einer bestimmten Sorte Claret-Wein trinkenden, Whisky süffelnden Tories finden. Wenn wir in diese Zeit zurückreisen könnten, wären wir wohl ziemlich geschockt. So etwas flammt in Epochen der politischen Nervosität auf.

Was heißt das?

Ich erinnere mich an einen Besuch im Unterhaus während der frühen 1990er, als ich Teenager war. John Major war Premierminister, seine Regierung klammerte sich an eine sehr kleine Mehrheit im Unterhaus. Ironischerweise versuchte er, den Maastricht-Vertrag durchzubekommen. Es gab eine Abstimmung spät in der Nacht, es war unglaublich angespannt, jeder Abgeordnete musste ins Unterhaus kommen, sie wurden praktisch aus Krankenhausbetten geholt und in das Parlament gerollt. Das sind so Tage und Abende, wo die Trinkerei heftig ist, weil die politische Spannung hoch ist. Wir werden mehr solche Abende haben, wenn der Herbst erst mal da ist.

Sie meinen, wenn es in die Endphase der Brexit-Vorbereitungen geht? Ein Abkommen zwischen der EU und Großbritannien sollte bis zum EU-Gipfel Mitte Oktober stehen – das wird immer unwahrscheinlicher. Theresa Mays Plan für den Austritt ist in ihrer eigenen, konservativen Partei umstritten. Wurde nicht letztens eine Abgeordnete für eine Brexit-Abstimmung krank ins Parlament beordert?

Es war eine Labour-Abgeordnete, die unglaublich krank war, aus dem Krankenhaus geholt und im Rollstuhl durchgeschoben wurde. Wir haben hier ein Abstimmungssystem aus dem 19. Jahrhundert, wo Abgeordnete physisch präsent sein müssen, in was für einem Zustand auch immer – in einem Rollstuhl, betrunken –, sie müssen irgendwie durch die Abstimmungsräume kommen und gezählt werden. Und nun haben wir Theresa May, die das Land ohne Mehrheit regiert – jede Abstimmung ist ein möglicher Cliffhanger! Mit so viel Brexit-Gesetzgebung, die durchgebracht werden muss, wird es zurückgehen zu langen Sitzungen bis spät in die Nacht, angespannten Abstimmungen. Ich denke, die Bars in Westminster werden im Herbst faszinierende Orte sein: Man bekommt einen Sinn für die Aufregung, das Drama, man wird Leute sehen, wie sie Komplotte schmieden, tratschen. Das wird ein goldener Herbst des politischen Trinkens.

In Ihrem Buch schreiben Sie ja auch über die Gefahren des Alkohols. 2015, als Sie bereits in den Recherchen für Ihr Buch steckten, starb der frühere Parteichef der Liberal Democrats, Charles Kennedy, an Blutungen, die mit seinem Alkoholismus in Verbindung standen. Hat diese Nachricht die Trinkkultur in Westminster geändert?

Ich glaube nicht, dass es die Kultur in Westminster sehr geändert hat – sie hatte sich ja bereits geändert. Charles Kennedy war auf eine Weise eine sehr traurige Ausnahme davon. Er war kein öffentlicher Trinker, man hätte ihn nicht in den Bars gesehen. Er war von der Sorte geheimer, privater Alkoholiker, die es in den alten Zeiten im Parlament sicher noch häufiger gab.

Und Ihre eigene Sicht?

Ich glaube nicht. Die Versuchung mit einem solchen Buch ist es, loszugehen und alle Anekdoten von bekannten Politikern zu finden, die wirklich lustige, dumme Dinge machen. Es gibt Leute wie Churchill, ein bemerkenswerter, gefeierter Trinker, der bekanntlich gesagt hat, dass er mehr vom Alkohol bekommen habe, als der Alkohol von ihm – Leute, die über die Flasche triumphiert haben. Aber von Beginn an habe ich gedacht: Warte mal, das ist kein ehrliches Bild von Alkohol. Du musst aufrichtig sein darüber, dass er das Leben von Menschen ruiniert hat. Es hätte das Buch sonst zur Zielscheibe von Spott gemacht.

In Deutschland scheinen PolitikerInnen im Wahlkampf eine unglaubliche Menge Bratwürste zu verdrücken, um bürgernah zu erscheinen. Diese Rolle kann ja auch Bier übernehmen.

Ja, es ist wahrscheinlich die einfachste und offensichtlichste Art und Weise, mit einer einzigen Handlung zu demonstrieren, dass du etwas mit den Leuten gemein hast, die du vertrittst: Du trinkst gern mal einen.

Wenn Politik nüchterner geworden ist, was könnte das ersetzen?

Ich glaube, wir werden weiterhin Fotos sehen von Parlamentariern und Politikern, die Pints hochhalten. Aber es muss plausibel sein: Sie machen sich zum Gespött, wenn es nicht glaubhaft ist. Eine Politikerin wie Theresa May, von der wir wissen, dass sie keine Trinkerin ist, dass sie sehr nüchtern ist – wenn sie ein Pint hochhält, um WählerInnen näherzukommen, die nicht glücklich darüber sind, wie sie den Brexit voranbringt? Sie werden nicht mit mehr Wärme auf sie blicken als ohne Bier. Es muss authentisch sein.

Wir werden sehen, was der Herbst bringt.

Ich glaube, Alkohol in der Politik ist ein so attraktives Thema, weil die Leute nostalgische Gefühle über die Zeit haben, als PolitikerInnen noch zusammen tranken. Politik war nie so gespalten wie jetzt und nie so gewissermaßen hässlich und erbittert. Es macht mich recht wehmütig nach einer Zeit, in der Leute aus verschiedenen Parteien mit unterschiedlichen Ansichten zusammensaßen und bei Drinks diskutieren konnten. Vielleicht werden wir mehr davon sehen.

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