Autorin und Barbesitzerin über Alkohol: „Das Nerdtum ist angekommen“

Kerstin Ehmer hat ein Buch über Alkohol geschrieben. Wir sprachen mit ihr über die Erfindung des Margarita und den Verlust des Feierabends.

Kerstin Ehmer sitzt in einer Bar

Nach zwei Drinks ist bei ihr Schluss: Autorin und Barbesitzerin Kerstin Ehmer Foto: Karsten Thielker

Die Victoria Bar besteht im Wesentlichen aus einem 12 Meter langen Tresen. Sie liegt, zwischen Copyshops, Handyshops, Sexshops, auf der Potsdamer Straße in Berlin. Um die Ecke ist der Drogenstrich. Die Buchautorin und Barbesitzerin kommt zu spät.

taz am wochenende: Ich hab schon mal was bestellt.

Kerstin Ehmer: Schön, was denn?

Einen Bonnie Prince Charlie 2009. Was nehmen Sie?

Einen Weißen Affen sicher nicht.

Der Drink heißt wie Ihr erster Roman?

Ja, den haben die Barkeeper extra für meine Buchvorstellung gemischt: Gin, Absinth, Zitronensaft. Mir schmeckt der nicht besonders. Aber ich hab ja auch keine Ahnung.

Wie? Sie sind doch Barbesitzerin und haben mit „Die Schule der Trunkenheit“ ein Buch über Drinks geschrieben.

Mir gehören ein paar Anteile an der Bar, ja. Aber mein Mann ist der Barkeeper. Ich kümmere mich vor allem um die Kunst, die hier hängt, um die Presse und die Handwerker. Das Gesundheitsamt sagte, dass es selten eine so saubere Küche zu sehen bekommen hat. Trotzdem müsse der Treppenabgang neu gekachelt werden. Als wir hier einzogen, war das noch nicht so streng.

Das war wann?

Im September 2001.

Die Frau

Kerstin Ehmer, geboren in Hamm, arbeitete als Reportagejournalistin sowie als Mode- und Porträtfotografin. Seit 2001 betreibt sie mit ihrem Mann die Victoria Bar in Berlin-Schöneberg mit der Veranstaltungsreihe „Die Schule der Trunkenheit“.

Die Bücher

„Die Schule der Trunkenheit“ mit Co-Autorin Beate Hindermann, Verbrecher Verlag 2018 (überarbeitete Neuausgabe des Originals von 2013). „Der Weiße Affe“, Pendragon Verlag 2017. Kriminalroman, der im Berlin der Weimarer Republik spielt – und in seinen Bars.

Vor oder nach dem 11. September?

Kurz danach. Es war ein schwieriger Start, weil alle schockgefrostet waren. Außerdem war hier in der Potsdamer Straße nichts. Wir hatten nur einen großen Raum, eine günstige Miete und einen Vermieter, der nicht an uns geglaubt hat.

Barkeeper: Was darf es denn jetzt sein?

Ehmer: Ich weiß nicht, was ich trinken soll. Vielleicht irgendwas mit Whisky.

Barkeeper: Dann mache ich einen Rattle­snake.

In Ihrem Buch erfährt man neben der Herkunft der verschiedenen Basisspirituosen für Cocktails wunderbare Details. Beispielsweise über die Champagner-Keller von Reims, die ein derart großes Tunnelsystem bilden, dass sie während des Ersten Weltkriegs wie eine unterirdische Stadt funktioniert haben.

Ja, in der langen Geschichte des Alkohols gibt es viele Dinge, die man noch nicht wusste, ohne sie vermisst zu haben – die aber hochinteressant sind.

Das Buch geht auf eine Veranstaltungsreihe gleichen Namens hier in der Bar zurück. Ich habe für die nächste Runde keinen Platz mehr bekommen. Was verpasse ich?

Es gibt immer ein fixes Menü zu einem Thema – also Gin, Wodka, Tequila, Champagner, Brandy, Rum oder Whisky –, damit man nicht alles durcheinandersäuft und durchhält. Die Barkeeper halten jeweils kurze Vorträge. Die beginnen sehr stringent und anspruchsvoll und werden im Laufe des Abends immer heiterer, weil es zu jedem Vortrag jeweils einen Drink gibt. Man hat am Ende die nicht unbeträchtliche Menge von …

Barkeeper: Bitte sehr.

Ehmer: Danke schön. Cheerio.

Cheers.

… fünf Cocktails intus mit ein bisschen Fingerfood dazwischen. Ihr Drink sieht besser aus als meiner.

Er ist trüber.

Ja.

Bücher über Alkohol sind gerade schwer im Trend.

Ja. Wir hatten auch Angebote, das Buch als sechsbändige Ausgabe im Schmuckschuber zu machen.

Warum haben Sie abgelehnt?

Weil die Verlage mehr Stars und Gossip wollten. Das fand ich schwierig. Über Promis und Alkohol gibt es immer sehr verschiedene Erzählungen. Aber weder ist es möglich, die Wahrheit herauszufinden, noch ist nicht alles unbedingt eine tolle Geschichte. Wenn Humphrey Bogart irgendwo hingeht und 12 Martinis trinkt, so what?

Der Teil über Bogart ist sehr kurz. Dafür stehen da diese tollen Sätze: „Er spielte in 26 Jahren in 82 Filmen und stand in dem Ruf, stets pünktlich am Set zu erscheinen und seinen Text zu können. Er lallte nie und keiner sah ihn jemals schwanken.“

Ja. Das reicht doch, oder? Es gibt auch nur wenige Cocktails, die eine tolle Geschichte habe. Aber es gibt sie, wie die Margarita: Ein mexikanischer Barkeeper hatte den Drink aus Tequila, Orangenlikör und Zitronensaft nach einer von ihm verehrten Tänzerin benannt. Sie aber verschmähte den Mann. Er ging irgendwann in die USA, arbeitete dort 25 Jahre als Milchmann und starb, ohne von dem Margarita-Wahn irgendetwas mitbekommen zu haben.

Toll fand ich auch zu erfahren, dass die Seeleute auf den Schiffen der Royal Navy im 17. Jahrhundert täglich einen halben Pint Rum bekamen, rund einen Viertelliter. Das würde heute unter Alkoholismus fallen.

1970 wurde dieser Freidrink ja auch abgeschafft, jedenfalls für die Mannschaften. Das Kapitel über den Rum ist in ökonomischer Hinsicht mein Lieblingskapitel. Ich nenne es: Flaschengeist der frühen Globalisierung. Die Geschichte des Rums umfasst die Sklaven aus Afrika, ihre Zwangsarbeit auf den Zuckerrohrplantagen in der Karibik und die dortige Rumproduktion, die dann als Schmuggelware nach Europa gebracht wurde.

Sind Männer trinkfester als Frauen?

Alle Frauen, die ich kenne, trinken gerne und haben damit kein Problem. Natürlich gibt es auch Frauen, die in der Küche mit zwei Weinflaschen stehen und sagen: „Welche? Ich kenne mich nicht aus.“ Die sollten vielleicht wenigstens das Buch lesen.

Wie hoch ist der Frauenanteil an Ihrer Bar?

Das weiß Beate besser, die ist hier Barkeeperin.

Beate Hindermann, Ihre Co-Autorin.

Ja, eine akribische Rechercheurin.

Wo haben Sie recherchiert?

Beate hat einen riesigen Fundus antiquarischer Bar- und Alkoholliteratur zu Hause. Ich habe viel englische Literatur studiert. Sehr begeistert bin ich von Kingsley Amis, ein total verschrobener Trinker. Dessen Hassobjekt waren die snobistischen Weintrinker mit ihrem Wahnsinnswissen.

Würde jemand in einer Bar wie dieser am Drink nippen und über das Alter des spanischen Sherry-Fasses spekulieren, aus dem das Vanillearoma des Brandy kommt?

Dieses Nerdtum ist definitiv beim Cocktail angekommen. Anstelle eines Drinks bekommt man in vielen Bars erst mal ein Beratungsgespräch. Auch zu uns verirrt sich manchmal ein Gast, der glaubt, sich mit seiner Bestellung als Kenner präsentieren zu müssen.

War das schon so, als Sie den Laden vor 17 Jahren eröffnet haben?

Nein, das gab es nicht. Unser Barbestand hat sich seitdem verzwanzigfacht, weil es so irre viele Marken gibt. Allein 15 verschiedene Wermuts.

Warum sagt man zu Weinmischgetränken wie Mussolini eigentlich nicht Cocktail?

Was ist das?

So nennt man auf dem Balkan Rotwein mit Cola oder Limo.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Ah. Kenn ich aus Spanien. Wovon ich total begeistert bin, ist der österreichische Spritzer. Der ist nicht wie unsere Weißweinschorle. Da ist ja nur so ein Alibischluck Wasser drin. Im Spritzer ist es halbe-halbe.

Warum ist ein Glas Wein zu Mittag in Deutschland so ungewöhnlich?

Im Mittelalter war man auch hierzulande schon mittags ganz schön beschickert, es ging schon morgens mit den Biersuppen los. Der Alkohol, wie wir ihn kennen, also mit Prozentangaben etc. ist ein Ergebnis der industriellen Revolution. Vorher waren das gepanschte Manufakturprodukte.

Ist der Cocktail auch ein Panschprodukt?

In seiner Entstehung ja: Es war der Versuch, ziemlich miesen Alkohol genießbar zu machen. Die Franzosen waren in der Entwicklung der Destillation die treibende Kraft, die Engländer als Konsumenten. Die wussten, was gut war, und haben durch ihre weltweiten Käufe hervorragende Spirituosen gefördert.

In der Folge kam die Prohibitionsbewegung auf. Die anfangs von Frauen getragen war.

Ja, in der Anti-Saloon League in den USA. Sie hatten gute Gründe: Anfang des 20. Jahrhunderts versoffen die Männer ihren Lohn und ließen Frauen und Kinder hungern. Es gab ständig Schlägereien und schlimme Exzesse. Gleichzeitig waren diese Saloons Kontaktbörsen, Jobvermittlungen und Informationspunkte.

Aber die Prohibition hat nicht den Exzess verboten, sondern sämtlichen Alkohol.

Genau. Die Kompromisslosigkeit ist, wie so oft, das Problem. Denn dadurch wird der Gesetzesverstoß populär.

Alkohol zu verbieten entpuppte sich noch nie als eine gute Idee?

Genau. Kein Alkohol scheint keine Lösung zu sein. Nun ging es nicht um Genuss, sondern darum, möglichst schnell blau zu werden, bevor die nächste Razzia kommt. Die Zahl der trinkenden Frauen hat sich in dieser Zeit um etwa 30 Prozent erhöht, weil der Alkohol nun nicht mehr im Saloon, wo Frauen nicht erwünscht waren, beherbergt war, sondern bei ihnen zu Hause.

Interessanterweise waren auch Trotzki und Lenin radikale Alkoholverächter.

Aus Gründen. So war noch unter dem Zaren der russisch-japanische Krieg am Alkoholismus der russischen Armee gescheitert. In Russland gab es ein absolutes staatliches Alkoholmonopol. Mit den riesigen Steuergeldern, die das einbrachte, wurde die erste Eisenbahnlinie finanziert. Die führte von St. Petersburg zur Zarenresidenz. Der Finanzminister spottete damals: „In anderen Städten verbindet die Eisenbahn wichtige Wirtschaftszentren, während unsere erste Linie direkt in die Kneipe führt.“

Was gibt es dagegen zu sagen?

Der enorme volkswirtschaftliche Schaden. Weil viel zu viel gesoffen wurde, wurde auch gestorben.

Heute ist das Röhrchen die wichtigste staatliche Alkoholkontrolle.

Alkohol ist nichts anderes als Räucherwaren oder Schokolade. Man muss lernen, mündig damit umzugehen.

Mein Drink ist alle, und ich will jetzt natürlich unbedingt noch einen.

Das finde ich eine gute Idee.

Ist das noch mündiges Trinken?

Das müssen Sie selbst wissen. Meine Grenze sind zwei Drinks. Jeder muss für sich herausfinden, wie viel er verträgt.

Ich hätte jetzt gerne was mit Cognac, weil mir das Kapitel über Weinbrand so gut gefallen hat.

Barkeeper: Dann würde ich einen Side­car empfehlen, einen echten Klassiker.

Kann ich den auch mit Asbach Uralt haben?

Barkeeper: Theoretisch ja. Aber Cognac ist in diesem Fall ein Must-have.

Ehmer: Ich muss eine rauchen.

Zigarette zum Cocktail ist auch so ein Must-have, oder?

Barkeeper: Ja. Aber nicht hier drinnen.

Es wird alles immer protestantischer.

Ehmer: Es gibt stark prohibitive Tendenzen, ja. Das betrifft nicht nur das Trinken, sondern auch das Essen: Alle Nahrungsmittel müssen was können. Da verzahnt sich der Zeitgeist mit dem Neoliberalismus. Die Zahl der Jogger ist in Ihrer Redaktion in den letzten Jahren sicher auch sprunghaft angestiegen.

Ich denke ja. Zurzeit machen alle Intervallfasten.

Wir machen uns fit für die permanente Produktivität. Es gibt keinen Feier­abend mehr, an dem Privatsphäre herrscht. Dass das so wenigen auffällt, finde ich bedauerlich.

Ich glaube, dass es den Leuten schon auffällt, aber sie wollen es halt so und nicht anders. In Deutschland sinkt der Alkoholkonsum. Merken Sie diese Entwicklung auch in Ihrer Bar?

Uns geht es gut. Wir haben das Glück, eine gut gehende Bar in einer großen Stadt zu sein, wo immer noch genügend Trinker übrig bleiben. Dass aber das Bier in der Mittagspause auf dem Bau nicht mehr zwingend dazugehört, ist ja nicht nur schlecht. Das permanente schlechte Gewissen, das ist schlecht. Dabei ist alles, was Spaß macht, mit Risiko verbunden. Es liegt an uns, zu entscheiden, wie weit wir die Dinge eskalieren lassen … Oh, was haben Sie denn da jetzt bekommen?

Einen Sidecar.

Oh ja. Der ist lecker. Kennen Sie Manhattan?

Ich hab „Mad Men“ geguckt, klar.

Das war ganz in unserem Sinne. Extrem gute Trinker. Aber jetzt probieren Sie mal.

Manhattan beschreiben Sie in ihrem Buch als „der ideale Cocktail, um Feingefühl und Sinn für Ausgewogenheit eines Barkeepers zu testen.“ Interessant, denn ich hab noch nie einen Manhattan getrunken, der mir schmeckt.

Es sind ja nur ganz wenige Zutaten – Whisky, Wermut und etwas Angostura – da kommt es eben auf das richtige Händchen an. Es ist wie beim Kochen. Pasta mit Tomatensoße ist nicht Pasta mit Tomatensoße.

Aber beim Kochen probiert der Koch vor dem Servieren.

Die Barkeeper auch. Vor allem, wenn Säure drin ist, weil der Gehalt der Früchte sehr unterschiedlich ist. Und wer weiß schon genau, wie viel ein Tropfen Angostura wirklich ist.

Trinken Barkeeper während der Arbeit?

Um Mitternacht mal einen Schnaps oder ein Glas Champagner zwischendurch. Mein Mann Stefan ist ein extrem mäßiger Trinker. Ich musste ihm in unserem Urlaub in Rumänien das Versprechen ablocken, dass wir jeden Nachmittag einen schönen Gin Tonic bestellen.

Und?

Er hat Wort gehalten. Es war ein fantastischer Urlaub.

Hilft Alkohol?

Mit Alkohol entwickelt man Verständnis und Bereitschaft, die man vorher gar nicht gehabt hat. Man überhört einen abartigen Dialekt, man setzt sich mit einem seltsamen Frauenbild auseinander. Auf einmal geht alles. Man säuft es nieder. Man hat danach wahnsinnige Kopfschmerzen, aber es wurde etwas eingepflanzt, was nicht vergessen wird. Der Sozialismus wäre ohne Alkohol schon viel früher implodiert.

Was ist Ihre schlimmste Erfahrung beim Trinken?

Wenn mich Leute nicht erkennen, mit denen ich zusammen gesoffen hab. Ich nehme das sehr ernst. Dass man all diese Dinge hinter sich lässt, die uns voneinander trennen, das ist, was Alkohol kann.

Hatten Sie nie das Gefühl, er könnte ein Problem werden?

Ich hab mich daraufhin untersuchen lassen. Das Ergebnis: Ich bin gefährdet, aber noch keine Alkoholikerin. Ich hätte gern, dass Alkohol das ist, wofür es gedacht ist: eine soziale Droge, die man mit anderen teilt. Wenn ich alleine bin, mach ich mir einen Tee.

Mir hat ja Ihr Kapitel über den Weinbrand sehr gefallen, habe ich das schon gesagt?

Ja. Das ist auch ein sehr trauriges Kapitel, weil der Imageverlust des Weinbrands auch ein Ergebnis von Hitler ist. Hitler hat Deutschland nachhaltiger zerstört als es irgendein Kriegsgegner hätte tun können. Auch die Deutschen haben einen florierenden Weinbau, aber sie haben es bis heute nicht geschafft, international eine Weinbrandrolle einzunehmen, die auch nur annähernd mit Frankreich vergleichbar wäre. Hängen geblieben ist, dass die Deutschen gute Waffen haben. Aber all die schönen Dinge nicht.

Auch an der Bar landet man in Deutschland immer irgendwann bei Hitler.

Zwei Champagner, bitte!

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.