Bäume in der Literatur: „Die Signale der Bäume lesen“

Wie kann man Beziehungen zwischen Bäumen und Menschen denken? Ein Gespräch mit Solvejg Nitzke, Literaturwissenschaftlerin, über Bäume in Romanen.

Auf einer Wiese steht ein großer Baum, eine Eiche, im blauen Himmel ziehen weiße Wolken

Eine alte Eiche auf einer Wiese in Hessen Foto: imagebroker/imago

Bäume gehören zum Diskurs über die Rettung vor der Ökokatastrophe. Sie sind zum Symbol für Lebensqualität und Zukunftsverantwortung geworden. Und sie erobern sich immer mehr einen Platz in der Literatur. Darüber hat die taz geredet mit der Baumforscherin Solvejg Nitzke. Ein Gespräch über Wurzeln, über Menschen, die Bäume werden und die Frage nach den Rechten der Natur.

taz: Frau Nitzke, Sie sind literarische Baumforscherin. Treten Sie als Literaturwissenschaftlerin jetzt in die Fußspuren des Autors Richard Powers und wollen den Wald retten?

Solvejg Nitzke: Das würde ich gerne tun. Aber meine Aufgabe ist es erst einmal, die Dinge noch komplizierter zu machen, als sie sind. In der Literatur ist noch viel zu tun, was ein komplexes Mensch-Baum-Verhältnis angeht. Richard Powers ist insofern ein gutes Beispiel, da er mit „Die Wurzeln der Welt“ eine tolle Vorlage dafür entwickelt hat, wie viele unterschiedliche Beziehungsweisen es zwischen Menschen und Bäumen geben kann: familiäre Beziehungen, Liebesbeziehungen, aber zum Beispiel auch Nutzungsbeziehungen, die jedoch nicht ausnutzend oder schadend organisiert sind.

Im aktuellen Klimadiskurs werden Bäume oft als Ökodienstleister behandelt. Wir müssen sie schützen, damit es uns besser geht.

Solvejg Nitzke ist Literaturwissenschaftlerin an der TU Dresden. Sie hat sich intensiv mit dem Tunguska-­Ereignis in Sibirien im Jahr 1908 beschäftigt, einer bis heute nicht gänzlich geklärten Katastrophe, bei der 60 Millionen Bäume umkamen. Zu ihren Forschungsinteressen gehören Klima, Katastrophe, Nature Writing, Science-Fiction, Verschwörung und Kriminalliteratur. Zum Frühlingsanfang erhielt sie für zwei Jahre ein Forschungsstipendium für die Arbeit als Baumforscherin.

Sie als Dienstleister für Menschen zu sehen, ist ja schon allein darum krumm, weil es sie lange vor uns gab und auch lange bevor uns bewusst wurde, welche verschiedenen Arten von Nutzen sie für uns haben. Wenn man bedenkt, was die philosophischen und kulturhistorischen Bedingungen dessen, was wir Welt nennen, sind, dann bedeutet es schon eine ziemlich große Verschiebung, zu begreifen, dass es ja die Pflanzen sind, die unsere Welt herstellen und dass wir Teil der Pflanzenwelt sind und nicht umgekehrt.

Forscher:innen, die eine nicht-anthropozentrische Sichtweise einnehmen wollen, müssen sich immer wieder die Frage anhören: Geht das überhaupt?

Es gibt darauf zwei Antworten: Erstens geht es nicht. Daher werden Versuche, abzurücken von einer anthropozentrischen Weltsicht, wie sie der new materialism oder die object orientated ontology unternehmen, oft mit dem Vorwurf konfrontiert, dass man – sobald man sich in der Sprache befindet – doch ohnehin alles in menschliche Konzepte stecken muss.

Zweitens?

Für die Philosophie mag das „Spekulieren“ ein Codewort sein, für mich als Literaturwissenschaftlerin sind es „Erzählen“ und „Fingieren“. Literatur kann in einem fiktionalen Text von ganz anderen Wirklichkeiten ausgehen, ohne dass sie diese gleich „verantworten“ oder „erklären“ muss. Wenn in einem literarischen, fiktionalen Text ein Baum spricht, dann spricht er! Und es ist erst einmal überhaupt nicht wichtig, ob das in Wirklichkeit geht. Es muss innerhalb des Textes plausibel sein. Von daher: Kann man eine rein nicht-menschliche Perspektive einnehmen? Nein. Aber: Man kann es versuchen und diesen Versuch beobachten.

Ist das Richard Powers in seinem Roman „Die Wurzeln der Welt“ gelungen?

Durchaus. Bäume sprechen hier, aber nicht mit Menschenstimmen, sondern indem sie Menschen beibringen, die Signale, die Bäume aussenden, zu lesen. Außerdem geht es – worauf der Originaltitel des Romans, „Overstory“, verweist – darum, den Menschen zu zeigen, wie sie wieder an einer großen Geschichte des Lebens teilnehmen können, anstatt sich selbst und ihre Umgebung auf die jeweilige Arbeitskraft zu reduzieren. Bäume werden im Roman weit differenzierter beschrieben als Menschen, was man dann aus anderer Perspektive auch kritisieren könnte. Aber erst einmal ist es gut, das Verhältnis umzudrehen.

Interessant ist, dass es aktuell mehr und mehr Literatur gibt, in der Menschen richtiggehend Bäume werden wollen.

Zum Beispiel in dem Buch „Wie ich ein Baum wurde“ von Sumana Roy. Dadurch entstehen Gedankenexperimente, die, wenn man sich an rein naturwissenschaftliche Bedingungen hielte, gar nicht möglich wären. Eine Vorstufe davon sind die Beschreibungen, wie Baumbeobachtungen funktionieren von Robert MacFarlane oder auch Annie Dillard, die zeigen, wie sehr man von seinen eigenen menschlichen Bewegungsgewohnheiten absehen muss, um verstehen oder erst einmal sehen zu können, was passiert.

Ich denke unter anderen auch noch an „Die Vegetarierin“ von Han Kang. Sehen Sie in den Baum-Metamorphosen in erster Linie den Wunsch nach einer interspezifischen Kommunikation?

Interessanterweise ist es bei Sumana Roy oder Han Kang im Gegenteil eher der Wunsch nach Nicht-Kommunikation, allerdings in Bezug auf die Menschen. Bei Roy kann eine in Bengalen lebende Frau ab einer bestimmten Zeit das Haus nicht mehr verlassen. Sie will unter anderem zum Baum werden, weil Bäume keine BHs tragen müssen und sich nicht an Ausgangssperren halten. In „Die Vegetarierin“ hört die Protagonistin, die sich im Buch kaum selbst äußern darf, einfach auf, Dinge zu tun, die sie menschlich machen, bis zu dem Punkt, an dem sie per Kopfstand im Wald steht und sich beregnen lässt, um Baum zu werden. Beide Geschichten lassen sich einerseits als Arten von Verrücktwerden erzählen, aber auch als fundamentale Ablehnung dessen, was Frauen in den jeweiligen Gesellschaften zugemutet wird.

Baumwerdung als Flucht?

Dazu gibt es ein Vorbild: die Nymphe Daphne, die vor der Liebe Apolls flieht und sich aus Verzweiflung in einen Baum verwandelt, da es keine andere Möglichkeit gibt, ein freies Leben zu führen und sich der Vergewaltigung zu entziehen. Dennoch ist die Baumwerdung nicht nur eine Flucht. Sie ist eine Möglichkeit, Welt zu gestalten, selbstbestimmter Teil einer Umwelt zu werden auf eine Weise, die der Figur in der Realität nicht offen steht.

Aber ohne Erfüllung?

Nicht wie beim Mythos von Philemon und Baucis, für die es eine große Belohnung ist, zu Eiche und Linde zu werden, weil sie dann als Bäume noch 1000 Jahre zusammen bleiben können. Das war bei der Nymphe Daphne sicher nicht so. Sie wäre, glaube ich, sehr zufrieden gewesen, wenn sie weiter durch den Wald hätte streifen dürfen. Gemeinsam ist ihnen interessanterweise vielleicht dennoch etwas: der Wunsch, keine Angst mehr haben zu müssen.

Haben Bäume keine Angst? Dass Pflanzen auf sensorischer und taktiler Ebene fühlen können, wissen wir ja inzwischen. Wie ist es mit der emotionalen?

Wenn man sich die biologischen Äußerungen von Angst anschaut, wie sie bei Tieren und Menschen auftreten – Jens Soentgen beschreibt das in „Ökologie der Angst“ zum Beispiel anschaulich – fällt natürlich auf, dass Bäume da anders ticken. Dennoch reagieren auch Bäume auf Gefahr. Sie warnen sich zum Beispiel gegenseitig, wenn Fressfeinde kommen. Trotzdem würde ich bei Bäumen nicht von Angst sprechen, sondern vielleicht eher vom Begriff der Sorge, oder Vorsorge, davon, dass Bäume in Gemeinschaften leben, die sich umeinander kümmern und die wahrscheinlich ein ganz anderes Empfinden von Gegenwart haben. Jede ihrer Verhaltensweisen – wenn wir hier von „Verhalten“ sprechen können – ist auf die Zukunft ausgerichtet. Eine Eiche zum Beispiel kann erst mit 300 Jahren von uns als „erwachsen“ bezeichnet werden.

Bei Jens Soentgen heißt es, Pflanzen seien zu langsam, um Angst zu haben.

So einfach ist es, denke ich, nicht. Wenn jene Eiche zum Beispiel jedes Jahr den Energieaufwand betreibt, Tausende von Früchten zu produzieren, von denen im allerbesten Fall drei wieder einen neuen Baum hervorbringen, dann könnte man dahinter ja vielleicht auch eine sehr große Zukunftsangst sehen, die Angst, dass überhaupt etwas weitergeht. Dennoch würde ich dabei bleiben, eher von „Sorge“ zu sprechen – und wenn von Angst, dann nicht als eine emotionale und nicht als Angst vor dem eigenen Ende. Diese Angst ist etwas sehr Menschliches. Ein Baum stirbt nicht so schnell, wenn man ihn fällt. Er kann wieder austreiben, und das muss noch nicht einmal aus demselben Stamm sein. Er konfrontiert uns daher auch mit einer weiteren menschlichen Eigenschaft: dem ständigen Streben, mit sich identisch zu sein.

Trotzdem sterben täglich unzählige Bäume. Brauchen wir nicht nur eine Literatur über Bäume, sondern auch Baumrechte?

Dafür gibt es mehrere Ansätze. So hat die Biologin Florianne Koechlin eine Ethikkommission für Pflanzen in der Schweiz geleitet. Wobei sehr viel Häme über sie kam, weil es zum Beispiel dann auch um die Rechte des Löwenzahn ging. Gerade in dieser Beziehung kommen wir schnell an die Grenzen unserer Vorstellung. Da kann die Literatur noch vieles leisten, um uns Pflanzen näher zu bringen. Die typische menschliche Vorstellung ist zum Beispiel, dass der Wald nur das ist, was man über der Erde sieht. Man sieht also tatsächlich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Würde man das ganze System sehen, die Formen, die Zusammenhänge, die Farne, Flechten, Moose und Pilze, sowie vieles, was wir als Menschen immer noch nicht verstanden haben, würden wir begreifen, dass es keine Option ist, einen Wald wie den Hambacher Forst umzuhauen und dafür eine sogenannte Ausgleichsfläche zu pflanzen. Diese Art von Denken setzt Bäume als eine Art Arbeiter, CO2-Binder, ein und entfremdet sie, marxistisch gesprochen, von sich selbst. Es reduziert die Wesen auf die Produkte, die sie liefern. Wer Bäume schützen will, muss Boden und Baum­part­ne­r:in­nen mitbedenken.

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