Belgrads dissidente Kulturszene: Frühling ohne Aufbruch

Der Chef der serbischen Nationalbibliothek musste gehen. Für die Belgrader Kulturszene nur ein weiterer Beweis für die von Nationalismus und Korruption kontaminierte Politik.

Isolierte dissidente Kultur in Belgrad: Das Literaturfestival Krokodil. Bild: Krokodil

BELGRAD taz | Im Keller der Nationalbibliothek von Serbien, hinter den Drahtkäfigen, in denen Zeitungsbündel, Bücherpakete und Schubkarren mit Müllsäcken gelagert werden, liegt das Büro des Lektors Sasa Ilic. An Kafkas „Strafkolonie“ fühlt sich der 39-Jährige, der auch Autor und Magazinherausgeber ist, hier erinnert. Bis vor kurzem lag sein Arbeitsplatz noch oben im 2. Stock. Im Januar wurde er degradiert. Seitdem ist er Korrektor im Keller.

Die Nationalbibliothek mit der für den jugoslawischen Modernismus typischen eigenwilligen architektonischen Poesie steht auf dem Vracar, einem Hügel im Zentrum der Stadt, umgeben von einem Park. Direkt daneben macht sich ein 2007 fertiggestelltes, in Beton gegossenes Monstrum breit: der orthodoxe Tempel des heiligen Sava, die größte Kirche Südosteuropas. Dieses Nebeneinander zweier so verschiedener Kulturen ist symbolisch für die Schizophrenie der serbischen Gesellschaft.

Bis zum 20. Januar hat der Schriftsteller Sreten Ugricic die Nationalbibliothek geleitet. Er war 2001 von der demokratischen Regierung Zoran Djindjic eingesetzt worden. Ugricic modernisierte die Institution und stellte dafür Leute wie Sasa Ilic an, den Herausgeber des dissidenten Literaturmagazins Beton, dessen politische Haltung quer zum nationalen Kanon steht.

Ugricic wurde an jenem 20. Januar per Telefon vom Innenminister Dacic gefeuert. Er kann „schreiben, was er will, aber nicht in seinem Büro, sondern im Gefängnis“. Der Vorwurf: Ugricic hätte einen Anschlag auf Präsident Boris Tadic unterstützt. Dabei hatte der Direktor lediglich eine Petition unterschrieben, die die Hetzjagd von Presse und Politik gegen den montenegrinischen Autor Andrej Nikolaidis verurteilte, der die serbische Politik kritisiert hatte. Nun war Ugricic selbst Zielscheibe der Hetzjagd geworden.

Erinnerung an einen Mord

Die dissidente Kulturszene war alarmiert, sprach von einem Rückfall in die neunziger Jahre, von Gleichschaltung der Presse, sogar von Lynchstimmung. Neun Jahre ist es her, dass Ministerpräsident Zoran Djindjic ermordet wurde. Daran fühlten sich nun viele wieder erinnert. Angeführt vom „Forum der Schriftsteller“ solidarisierten sich mit Ugricic über 1.000 Prominente.

„Es gibt Freunde, die mich bis heute nicht angerufen haben, um zu fragen, wie es mir geht“, erzählt Sasa Ilic in seinem Keller. „Wie lange ich das hier aushalte, ohne verrückt zu werden, weiß ich nicht.“ Er hat sich schon für ein Stipendium in Deutschland beworben. Sreten Ugricic, sein ehemaliger Chef, ist bereits fort. Er schreibt seinen neuen Roman in der Schweiz.

Es ist Frühling, 25 Grad, ganz Belgrad flaniert auf der Knez Mihajlova und im Park der Kalemegdan-Festung, Straßenhändler bieten serbische Fähnchen an. Auf dem Platz der Republik demonstriert eine Handvoll Leute am Jahrestag der Bombardierung Belgrads von 1999 gegen das „dreckige Europa“. Von einem Aufbruch gegen die korrupte Regierung der Demokraten und Sozialisten ist nichts zu spüren – obwohl am 6. Mai Parlament und Präsident gewählt werden.

Sreten Ugricic in der Schweiz hat eine einfache Erklärung dafür. „Meine Entlassung war der Auftakt zum Wahlkampf“, erzählt er am Telefon. „Sie müssen beweisen, wer der größte Serbe ist und wer die härtere Hand hat. Es geht hier nicht um Rückfall in die neunziger Jahre, sondern um die Verkündigung dessen, wie es im Jahre 2014 aussehen wird. Aber solche Wahrheiten werden in Serbien verschwiegen.“

Auf Werbetafeln in Belgrad leuchtet das Wort „Wahrheit“, der Slogan eines Präsidentschaftskandidaten, mit der Unterzeile „Umkehr“. In Schaufenstern hängen Schilder mit der Aufschrift „Liquidierung“. Diese Läden müssen schließen. Wird auch die Wahrheit in Serbien umgedreht? Liquidiert?

Auf der Rangliste der „Reporter ohne Grenzen“ steht Serbien 2011 bei der Pressefreiheit auf Platz 80. Zahlreiche ausländische Studien stellen die Selbstzensur als eines der größten Probleme dar. Offiziell gibt es keine Zensur, aber an den drei großen Anzeigenverkäufern kommt kein Medium vorbei. Einer von ihnen ist Dragovan Djilas. Er ist der Bürgermeister von Belgrad, Mitglied der Demokratischen Partei und der Besitzer von Direct Media, dem größten Medienwerbeunternehmen Südosteuropas.

Im Keller der Nationalbibliothe kommt gerade die Nachricht durch das Radio, dass Verica Barac, Vorsitzende der Anti-Korruptions-Kommission, gestorben ist. Zuletzt hatte sie noch einen Bericht über die Kontrolle der serbischen Medien verfasst, indem sie die „unklaren Besitzverhältnisse“ im Zusammenhang mit der Firma des Bürgermeisters anklagte. Doch ausgerechnet dieser bezeichnete Barac posthum als „Vorbild für die zukünftigen Generationen“. Diese Doppelzüngigkeit ist Alltag. Eine kritische Öffentlichkeit findet in Serbien derzeit nur virtuell statt. Selbst bei der Wochenzeitung Vreme, einst wichtigste oppositionelle Publikation, geht seit einem Besitzerwechsel die Furcht um, dass Werbeunternehmen manch gut bezahlte Anzeige zurückziehen könnten.

Die Wahlen

Am 6. Mai finden in Serbien Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Präsident Boris Tadic von der regierenden Demokratischen Partei ( „Ich stehe für europäische Integration“; „Kosovo werde ich niemals anerkennen“) trat am 4. April überraschend zurück, um erneut zu kandidieren. In Umfragen liegt Tadic hinter dem einzig ernstzunehmenden Kandidaten Tomislav Nikolic, Oppositionsführer der Serbischen Fortschrittspartei. Nikolic war früher Kriegshetzer und ist heute „überzeugter Europäer“.

Die Parteien

Die Demokratische Partei wurde 1990 unter anderem von Zoran Djindjic gegründet und war die bedeutendste Oppositionspartei gegen das Milosevic-Regime. Zoran Djindjic war von 2000 bis zu seiner Ermordung 2003 Ministerpräsident und galt als Modernisierer, der Demokratie und europäische Integration förderte und Korruption und Nationalismus bekämpfte. Kritiker werfen der Partei heute vor, das Erbe Djindjic’ verraten zu haben. Der ehemalige Gegner der Demokratischen Partei ist ihr jetziger Koalitionspartner: die Sozialistische Partei Serbiens, früher die Partei Slobodan Milosevic’.

Die Kultur

Das Meinungsportal e-novine

Das Literaturmagazin Beton

Das Zentrum für kulturelle Dekontamination

Das Literaturfestival Krokodil

Der Hörbuchverlag Reflektor

„Wir haben nur Feinde“

„Wir haben keine Anzeigen, wir haben nur Feinde“, sagt Petar Lukovic grinsend, legendärer serbischer Rockkritiker, Pornomagazinmacher, Polemiker und Chefredakteur von e-novine, einem beliebten Meinungsportal der Opposition, das der ehemalige Vreme-Chef 2008 aufgebaut hat. „Ich schreibe und denke immer noch so wie früher – zynisch, polemisch, hardcore“, erzählt Lukovic, vor ihm auf dem Schreibtisch eine Tüte mit Dosenbier. In einer kleinen Wohnung ist die Sieben-Leute-Redaktion untergebracht. Dort hat Lukovic e-novine zu dem zentralen Pool kritischer Autoren des gesamten ehemaligen Jugoslawien gemacht.

Für den jungen Redakteur Toma Markovic ist diese Haltung, die Ironie und die Freiheit, das zu schreiben, was er will, Grund genug, hier für einen Hungerlohn zu arbeiten. „Freier Markt und Demokratie sind in diesem Land nur Illusion. Jeder Journalist weiß, über was er besser nicht schreibt, möchte er seinen Job nicht verlieren oder angezeigt werden.“

Während die Justiz die zahlreichen Klagen wegen Korruption und Menschenrechtsverletzungen ignoriert, steht Lukovic praktisch ein Mal die Woche wegen angeblicher Beleidigung vor Gericht. „Die Journalisten und Leute wie der Regisseur Emir Kusturica machen sich zu Werkzeugen der Regierung und versuchen uns mit diesen Klagen in die Knie zu zwingen“, sagt Lukovic. „Die Situation ist in gewisser Weise sogar schlimmer als in den Neunzigern. Unter Milosevic hatte wir eine offene Diktatur. Jetzt wird die Kontrolle versteckt ausgeübt.“

Cloaca Maxima

„Eine Psycho-Dämmerung verdichtete sich über uns und wir kamen uns vor wie im Unterdeck“, schrieb Vladimir Arsenijevic 1994 in seinem preisgekrönten und in zwanzig Sprachen übersetzten Romandebüt „Cloaca Maxima“ über die Zeit in Belgrad während des Jugoslawienkrieges. Seitdem gehört er zu den bekanntesten Stimmen der jüngeren, dissidenten Autorenszene. Er war bei der Solidaritätskampagne für Sreten Ugricic einer der Wortführer. „Was mich am meisten aufregt, ist, dass es sich bei diesen Leuten um Mitglieder der Demokratischen Partei handelt, auf die wir vor dem Sturz Milosevic’ gesetzt hatten“.

Arsenijevic selbst wurde vergangenes Jahr Kolumnist der Tageszeitung Press, die de facto auch dem Belgrader Bürgermeister Djilas gehört. Nach acht Monaten wurde er wieder rausgeschmissen. „Sie wollten wohl mit ihrem finanziell äußerst lukrativen Angebot erreichen, dass ich meine politische Kritik mildere. Aber für sie war es schon zu viel, überhaupt über Srebrenica oder über eine etwas zu euphemistisch geratene Statue eines serbischen Dichters zu schreiben.“

Arsenijevic’ kleine Wohnung ist jetzt sein Büro. Gemeinsam mit Ana Pejovic organisiert er von dort aus das Literaturfestival „Krokodil“ und den Hörbuchverlag „Reflektor“. „Ich lebe mit fast fünfzig heute so wie mit Ende zwanzig – von der Hand in den Mund. In den neunziger Jahren war die oppositionelle Medien- und Kulturszene wesentlich lebendiger“, erinnert er sich. „Erst später wurde uns klar, dass nicht alle aus denselben Gründen gegen Milosevic waren.“

Belgrads tiefste Stimme

Eine, die in den Kämpfen der neunziger Jahre standhaft blieb, ist Borka Pavicevic, Gründerin und Leiterin des „Zentrums für kulturelle Dekontamination“. Sie ist eine renommierte Dramaturgin und Autorin. Ihr Zentrum veranstaltet seit 1995 Performances, Ausstellungen, Buchvorstellungen und veröffentlicht eigene Publikationen.

Wenn die 64-jährige, beeindruckend energische und leidenschaftliche Frau mit der wahrscheinlich tiefsten Stimme ganz Belgrads redet, spricht eine in der jugoslawischen Boheme großgewordene Intellektuelle. „Diese Vergleiche mit den neunziger Jahren sind hilflos. Das, was hier vor sich geht, lässt sich nicht begreifen. Die Gesellschaft ist ihrer Würde beraubt worden und unterwirft sich dieser sogenannten Elite.“

Die Stadt gehöre den Bewohnern nicht mehr und deswegen werfen sie den Müll einfach auf die Straße, fährt Borka Pavicevic fort. „Niemand weiß mehr, wo er eigentlich wohnt. Die Straßen wurden in den letzten fünfzehn Jahren zwar zigmal umbenannt, doch erneuert wurden sie trotzdem nicht. Dafür geben die Politiker kein Geld aus. Ich frage mich nur, warum sie dennoch alle so teure Autos besitzen.“

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