Berliner Grüne vor Parteitag: „Flügel sind kein Selbstzweck“

Die Berliner Landesvorsitzenden Nina Stahr und Werner Graf hoffen auf eine Fortsetzung des grünen Höhenflugs. Und auf ihre Wiederwahl.

Seit 2016 an der Spitze der Berliner Grünen: Werner Graf und Nina Stahr Foto: Stefan Boness/Ipon

taz: Frau Stahr, Herr Graf, wie fühlt es sich gerade an im grünen Umfragehoch?

Nina Stahr: Gut.

Werner Graf: Super. Großartig. Gerade ist die Stimmung auf unserer Seite. Es ist aber auch eine große Verantwortung, jetzt mit aller Kraft für eine ökologischere und sozialere Politik zu kämpfen – denn deshalb kommen die Menschen zu uns.

Nina Stahr: Wir wachsen ja immer mehr, vergangene Woche haben wir unser 7.000stes Mitglied in Berlin aufgenommen. Das, wofür wir immer standen, kommt jetzt bei den Leuten an – etwa, weniger Plastik in den Meeren zu haben oder die Klimakrise ernst zu nehmen.

Bildung und Stadtentwicklung sowie Vorstandswahlen sind die großen Themen beim Landesparteitag der Grünen am 24. November. Gastredner ist der Bundesvorsitzende Robert Habeck. Die Mitgliederzahl des Landesverbands stieg unter den seit Dezember 2016 amtierenden Vorsitzenden Nina Stahr (36) und Werner Graf (38) von 5.700 auf aktuell 7.000. Bundesweit haben die Grünen rund 70.000 Mitglieder. Stahr wird dem Realo-Flügel zugerechnet und war früher Fraktionschefin in der Bezirksverordnetenversammlung Steglitz-Zehlendorf. Werner Graf kommt vom linken Kreisverband Friedrichshain-Kreuzberg. (sta)

Diese Inhalte gibt es schon länger, neu sind hingegen Ihre Bundesvorsitzenden. Ist es für Sie nicht desillusionierend, dass es bloß zwei charismatische Gestalten braucht, um die grünen Umfragewerte so weit nach oben zu treiben? Dass es keine Frage des Programms ist?

Stahr: Sie haben recht, wir haben jetzt mit Robert Habeck und Annalena Baerbock zwei Leute an der Spitze, die von ihrer Art und Weise, wie sie auf Menschen zugehen, viele Leute mitnehmen. Trotzdem glaube ich nicht, dass es nur an den beiden liegt. Wir sind in einer extrem politisierten Zeit, und da sind unsere Themen diejenigen, die viele Menschen interessieren – und wir sind der Gegenentwurf zur AfD.

Graf: Natürlich freuen wir uns als Berliner Grüne, wenn die Bundespartei von uns lernt und nun eine Doppelspitze hat, die an einem Strang zieht. Wir haben in Berlin vorgelebt, wie man das macht und so auch besser Inhalte transportieren kann. Natürlich sind charismatische Personen, die Positionen nach außen tragen können, besser als Personen, die das nicht können. Aber wir sind lange genug in der Politik, um zu wissen, dass dieselben Personen, die heute als supercharismatisch gelten, morgen abgeschrieben sein können.

Das steht ja auch gar nicht in Frage.

Graf: Deshalb verlassen wir uns nirgends nur darauf. Die Grünen in Bayern hatten zum Beispiel nicht bloß ein super Spitzenpersonal, sondern haben sich seit Langem gegen das Polizeigesetz gestellt, haben sich schon seit Jahrzehnten gegen den Flächenfraß positioniert …

… aber wie Sie sagen: „seit Jahrzehnten“. Neu war auch dort das Spitzenduo.

Graf: Nur auf einzelne Personen zu setzen, funktioniert nicht. Das mag mal kurzfristig wie bei der SPD einen Schulz-Hype auslösen, aber das hält nicht an, wie da gut zu sehen war – man braucht auch Konzepte und klare Positionen. Und die bieten wir.

Herr Graf, Ihnen und dem linken Parteiflügel muss es doch zu schaffen machen, dass dieser Boom ausgerechnet mit zwei Bundesvorsitzenden vom Realo-Flügel passiert.

Graf: Flügel sind kein Selbstzweck, auch für mich nicht. Annalena und Robert haben viele auch für mich wichtige Sachen nach vorne gestellt und thematisiert, etwa soziale Absicherung, Überwinden von Hartz IV. Diese Themen haben sie gesetzt – ob sie das jetzt als Linke oder Realos machen, ist mir erst mal wurscht.

Die Flügel sind passé?

Nein. Ich glaube aber, viele überhöhen und überschätzen die Bedeutung der Flügel in unserer Partei. Flügel brauchen wir, um Diskussionen im Vorfeld zu führen und Debattenräume zu schaffen, aber sie sind, wie gesagt, kein Selbstzweck. Annalena und Robert machen einen super Job, und ich bin froh, dass sie da sind.

Aber ihre „Heimat-Sommertour, die hätten Sie nicht gemacht?

Graf: Ich mache gerade eine Tour, die heißt „Selbstbestimmt leben: Alle nach ihrer Façon“. Ich finde, die Debatte, wer gehört zu unserer Gesellschaft, die ist entscheidend. Hier in Berlin leben viele mit sogenanntem Migrationshintergrund, viele Sinti und Roma, viele schwarze Menschen – die alle sind Berlin. Ob man diese Debatte jetzt mit „Heimat“ überschreibt oder mit „Teilhabe“, ist im Grunde egal.

Raed Saleh, der SPD-Fraktionschef, hat den Begriff Heimat für die politische Linke reklamiert. Hat er recht?

Stahr: Ich finde es falsch, sich an einzelnen Begrifflichkeiten aufzuhängen und darüber die Debatte zu führen – die Inhalte gehen dabei verloren. Mir geht es vielmehr darum: Wer darf sich hier zu Hause fühlen? Und da sage ich: Jeder, der auf dem Boden unseres Grundgesetzes steht, der darf sich hier zu Hause fühlen …

… der darf hier „heimisch“ sein?

Stahr: … der darf hier heimisch sein, natürlich. Ich persönlich habe dieses große Problem mit dem Wort Heimat nicht. Ich kann aber andere verstehen, die dieses Problem haben. Als Historikerin, die weiß, woher die Deutschlandflagge kommt …

… 1832 beim Hambacher Fest – nicht zu verwechseln mit dem Hambacher Forst –, Symbol der Opposition gegen die Restauration

Stahr: … habe ich auch überhaupt kein Problem mit dieser Flagge. Und alles, was diese Flagge transportieren soll, finde ich richtig. Dass sie jetzt von den Rechten vereinnahmt wird, finde ich total schlimm.

Warum hat sich dann nicht die Unteilbar-Demo dagegen gewandt und die Flagge für sich reklamiert, statt sie als eher unwillkommen darzustellen? Die hat ja nicht die AfD erfunden, die steht in Artikel 22 im Grundgesetz.

Stahr: Vor diesem Hintergrund kann ich Raed Salehs Aussage schon verstehen: In dem Moment, in dem Rechte uns diese Symbole wegnehmen, gehen sie der Allgemeinheit verloren. Ich glaube aber, wenn man die dahinterliegende Debatte löst – wer darf hier heimisch sein? – und dem ganzen Populismus den Nährboden entzieht, dann hätten wir auch diese Heimat- und Flaggendebatte nicht mehr.

Graf: „Unteilbar“ war eine Demo, die auf den kleinsten gemeinsamen Nenner aller demokratischen und gesellschaftlichen Gruppen gezielt hat.

Und dieser kleinste Nenner konnte nicht eine im Grundgesetz verankerte Flagge sein?

Graf: Ich verweigere mich tatsächlich der Debatte um den Begriff Heimat, weil ich finde, sie bringt uns nicht weiter. Ich verstehe die Menschen, die ein Problem mit der Flagge haben. Ich verstehe aber auch Claudia Roth …

… für die Sie als frühere Grünen-Chefin einige Jahre gearbeitet haben.

Graf: … die sagt: Ich lass mir mein Bayern nicht wegnehmen, ich zieh das Dirndl an.

Beim Landesparteitag in drei Wochen wird Robert Habeck Gastredner sein. Erwarten Sie, dass er die Delegierten auf einen neuen Anlauf Richtung Jamaika einzuschwören versucht? Die schwarz-rote Koalition hält vielleicht nicht mehr lange.

Stahr: Wir haben mit Robert Habeck noch nicht darüber gesprochen, was er da sagen wird – das ist auch ihm selber überlassen. Aber jetzt den Landesverband auf Neuverhandlungen einzuschwören, wäre der falsche Weg.“

Warum?

Stahr: Wir waren in Bayern und Hessen so erfolgreich, weil wir uns nicht an den anderen abgearbeitet, sondern unsere eigenen Impulse gesetzt haben. Ich gehe schwer davon aus, dass auch der Bundesverband in diesem Sinne weitermachen wird.

Inhaltlich geht es beim Parteitag um Bildung und Stadtentwicklung. Was schlagen die Grünen da Neues vor?

Stahr: Im Bildungsbereich und gerade beim Personal wurde zu wenig getan, um Menschen ein Lehramtsstudium in Berlin zu ermöglichen. Unsere Lösungsansätze werden auch nicht von heute auf morgen wirken, aber irgendwann muss man ja anfangen.

Was wollen Sie denn machen außer dem, was alle fordern, nämlich mehr Lehramts-Studienplätze?

Stahr: Wir fordern als Motivation eine Übernahmegarantie gleich bei Studienbeginn, damit man sicher sein kann, nicht ohne Job dazustehen, falls sich das Problem an den Schulen zwischenzeitlich erledigt, etwa durch Quereinsteiger. Das kann dazu führen, dass wir dadurch zu einer Überausstattung kommen, die wir aber richtig finden, weil wir an anderer Stelle für Entlastung sorgen wollen.

Was ist mit Verbeamtung, lange bloß eine CDU-Forderung, zuletzt aber auch in der SPD ein Thema?

Stahr: Geld ist ein Aspekt, aber sicher nicht der einzige. Lehrer in Berlin verdienen als Angestellte gerade am Anfang gut, der Unterschied zu Beamten kommt bei der Rente – da müssen wir schauen, ob wir ausgleichende Regeln hinbekommen. Das Entscheidende aber, hier in einer Schule arbeiten zu wollen oder nicht, sind die Arbeitsbedingungen. Freiraum, Teams, Supervision. Lehrersein in Berlin soll ein Job sein, den man gerne macht.

Und was sind die Kernpunkte beim Leitantrag zu Stadtentwicklung?

Graf: Der zentrale Gedanke ist, dass in Berlin das Stadtgrün weiter wächst und Berlin eine grüne Metropole wird. Daher müssen wir die Frage des ökologischen Stadtgrüns immer gleich mitdenken, nicht nachher, sondern schon bei einer Bau-Voranfrage. Es geht darum, dass wir ausreichend Parks in neue Quartiere bauen, dass an Nistplätze für Vögel und Unterschlupf für Bienen gedacht wird. Wir müssen auch zu mehr Entsiegelung kommen, beispielsweise bei Straßen und in Hinterhäusern, damit das Regenwasser besser abfließen kann. Und besonders wichtig: Eine ganz klare Absage, Kleingärten dem Wohnungsbau zu opfern. Es geht darum, dass in Berlin in Zukunft die Oma auch ihre Parkbank und die Biene ihren Unterschlupf findet.

Vorstandswahlen gibt es auch noch – Sie wollen wahrscheinlich nicht gerade jetzt mitten im Umfragehoch aufhören?

Stahr: In den letzten zwei Jahren haben wir die Partei gut vorangebracht und für die Regierungsverantwortung aufgestellt. Insofern sind wir da gerade gut im Flow, und das würde ich als Landesvorsitzende gerne fortsetzen.

Graf: Da gilt auch für mich. Ich biete gerne der Partei an, das für zwei weitere Jahre zu machen.

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