Berliner Lebensentwürfe: Das andere Lab

Am Kreuzberger Spreeufer, wo einst das BMW Guggenheim Lab hinsollte, campieren 19 Aussteiger. Was kann die Stadt von diesem Lab lernen?

Hier wird inzwischen campiert. Bild: dpa

Das Wichtigste, sagt Jerry, sei das Boot. Ein Langboot, mit dem er und sein Kumpel „Flieger“ irgendwann davonpaddeln würden. Deshalb seien sie ja auch hier am Spreeufer.

Man solle das jetzt nicht falsch verstehen, sagt der ganz in Schwarz gekleidete Mann, lange Haare, Gitarre auf dem Schoß. „Wir sind nicht blöd. Das hier draußen ist unser Leben.“ Wenn er, Jerry, also eine Zukunftsfrage an Berlin stelle, dann die: „Kann ich so leben, wie ich möchte? In dieser Stadt? Hier?“

Keine schlechte Frage. Und eine, die auch ein paar Kilometer weiter auf der Agenda steht. In dem Lab, das eigentlich an der Stelle ablaufen sollte, wo jetzt Jerrys Tipi in die Höhe ragt: am Kreuzberger Spreeufer, auf der Brache an der Cuvrystraße. Das BMW Guggenheim Lab, eine Denkwerkstatt in einem luftigen Carbonbau, in dem bis Ende Juli über die Zukunft von Großstädten sinniert wird.

Das BMW Guggenheim Lab geht in seine dritte Woche. Noch bis zum 29. Juli steht das Laboratorium auf dem Pfefferberg-Gelände in Prenzlauer Berg. In über 100 kostenlosen Veranstaltungen werden Fragen der Stadtgestaltung beackert. Die Workshops sollen Einwohnern als lokale Ideenschmiede dienen und sie dazu ermuntern, selbst zu Gestaltern ihrer Stadt zu werden. Der große Publikumsandrang hält sich bislang in Grenzen. In der ersten Woche kamen nach Angaben des Labs 6.000 Besucher.

Ursprünglich sollte es am Spreeufer in Kreuzberg stattfinden. Aufgrund von Protesten, die sich gegen die Finanzierung des Projekts durch BMW richteten, verlegten die Veranstalter das Labor in den Pfefferberg.

Das Programm für die kommenden Tage steht im Zeichen der Mobilität, die selbstverständlich irgendwie nachhaltig sein soll: Der ADFC bietet ein Fahrrad-Sicherheitstraining an. In einer anderen Aktion wird über die Nutzung von Straßenraum, insbesondere von Parkplätzen, nachgedacht - und sogleich interveniert. Die Lab-Teilnehmer wollen am heutigen Donnerstag Stühle statt Autos parken. Diverse Panels beschäftigen sich außerdem mit Abfallentsorgung und der Frage, was sich aus recycelten Kunststoffen alles herstellen lässt: Straßenbrücken wie die Vertech-Brücke in Schottland zum Beispiel, die nicht rosten und schwerlich verrotten kann.

Ein weiterer thematischer Schwerpunkt liegt in den nächsten Wochen auf der Wahrnehmung und Kommunikation im städtischen Raum, bevor das Lab dann zur nächsten Station seiner sechsjährigen Welttour weiterzieht: nach Mumbai. XLA

Nun aber steht der Kasten auf dem Pfefferberggelände in Prenzlauer Berg. Und auf der Cuvry-Brache wackeln 19 Zelte im Wind, zwei davon Tipis. Gräser wuchern drum herum, nebenan schnurrt die gelbe U-Bahn über die Oberbaumbrücke. „Dies ist ein Platz für Frieden und Freiheit“, steht dort gepinselt, wo sich der Zaun zur Brache öffnet.

Dahinter haben sich Ausgestiegene niedergelassen, die meisten Männer. Einige hatten Probleme mit ihren Vermietern, andere mit ihren Frauen, andere mit Drogen. Manche alles zusammen. Jeder sei hier irgendwie „angeschlagen vom Leben und der Stadt“, sagt Jerry, der Tipi-Mann. Nun zelten alle gemeinsam. Man pflege eine „friedliche Koexistenz“, heißt es aus einem anderen Zelt. Im Grunde ist aber auch das ein Lab, ein soziales. Und vielleicht sogar ein berlinerischeres: authentisch, kreativ, dreckig. Was kann die Stadt von den Cuvry-Experten lernen?

Mickey, schwarze Mütze, Selbstgedrehte, sagt, wenn er gerade etwas ändern könnte, würde er Heroin legalisieren. Damit blieben der Welt auch einige Kriege erspart. Der Mittdreißiger blickt von seinem Zelt auf die Spree. Ein Junkie, Substitution. Heroin legalisieren – erwartbar.

Dann aber holt Mickey aus. Wie die Gesellschaft mit ihren Schwachen umgehe, sei doch bezeichnend. In der „Plötze“, im Knast, säßen fast nur noch Schuldner, Schwarzfahrer und Junkies. „Dahinter steckt was Strukturelles.“ Der hagere Mann ist belesen; in der Zeitung, die in seinem Zelt liegt, hat er wichtige Sätze unterstrichen. Schon in der Schule werde der Klassengegensatz eingetrichtert, sagt Mickey. Hier Gymnasium, da der Rest. „Es geht nur um Unterordnung.“ Bald werde es knallen, prophezeit er. „Und das soll’s auch.“

Das Leben genießen

Ein paar Zelte weiter steht Thomas, Lederjacke, in die Haare hat er sich kleine Zöpfchen geknotet. Als sein Vermieter ihm immer wieder die Miete erhöht habe, habe er irgendwann „überhaupt kein Bock mehr auf Wohnung gehabt“ und sei hier raus. Das Wichtigste jetzt? „Hierbleiben“, sagt der 46-Jährige. „Einfach ein normales Leben genießen.“ Vielleicht sei ja ein Pachtvertrag drin, er würde hier auch überwintern. Jahrelang habe er in Neukölln gewohnt, erzählt Thomas. In der Pannierstraße, anfangs für 570 Mark. Da gehe er jetzt bestimmt nicht in einen Randbezirk.

Thomas schlug vor anderthalb Monaten auf der Cuvry-Brache sein Zelt auf. „Flieger“ und Jerry, die Ersten, waren schon ein paar Wochen früher da. Nach und nach wurden es immer mehr. Vom Eigentümer, der Ritter Holding, würden sie geduldet, sagen die Zelter. Sie sammelten ja auch jeden Morgen den Müll der Touristen auf. Die Holding aus München hat angekündigt, auf dem Gelände „Wohnungen, Einzelhandel, Büros“ zu bauen. Auf Plakaten sieht man Fünfstöcker und Cabrios davor.

„So was geht echt nur in Berlin!“, sagt Maximilian und grinst. Ein Österreicher, Künstler, mit riesiger Brille und zerschlissener Weste. „Da hast du hier so einen Edelinvestor, und der duldet das!“ Das Zelt des 30-Jährigen steht etwas abseits, er will hier bald Mode verkaufen, Fairtrade von tibetischen Flüchtlingen. „Radikale Selbstverantwortung“, sagt Maximilian, das müsse die Stadt lernen. „Den Überfluss recyceln, es gibt ja alles.“ Essen, Möbel, Fernseher schmissen die Leute auf die Straße. Er selbst, sagt Maximilian, lehne alle staatlichen Gelder ab. Das Leben funktioniere trotzdem. „Gut sogar.“

Im weißen Tipi klimpert Jerry weiter auf seiner Gitarre, eine Feuerstelle raucht. Gegen das Lab, sagt der 50-Jährige, hätte er gar nichts gehabt. „Dann hätten wir unter deren Dach ziehen können, und die Besucher wären durchs Zeltdorf gebummelt.“ Nun sei man eben unter sich, sagt Jerry. Und „Flieger“ und er seien die „Häuptlinge“. „Wenn’s einem dreckig geht, helfen wir dem.“ Eine Frau kommt in Jerrys Zelt. Sie sagt, sie hoffe, dass Berlin „respektvoller“ werde. „Genau“, stimmt Jerry zu. Jeder solle einfach so leben, wie er wolle. Er glaube eben an Brahmanen.

Mit Politik, betont Jerry, habe all das nichts zu tun. „Wir sind hier, weil’s eben Freigelände ist. Wenn wir gehen, kommen andere.“ So könnte man das sehen. Man könnte aber auch sagen: Mehr „confronting comfort“ – Leitthema des Labs im Pfefferberg – als hier geht nicht.

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