Berliner Volkssolidarität wird 70 Jahre alt: „Wir liegen voll im Trend“

Vor 70 Jahren wurde die Volkssolidarität gegründet. Weil ihre Mitglieder schwinden, muss sich der Wohlfahrtsverband neu aufstellen, so Chefin Heidi Knake-Werner.

Seniorinnen auf der Bank

Kurz ausruhen, dann gehts weiter: Senioren in Berlin. Foto: dpa

taz: Frau Knake-Werner, vor 70 Jahren wurde die Volkssolidarität gegründet. Warum?

Heidi Knake-Werner: Hauptanlass war das Gleiche, was uns heute bewegt, nämlich eine ungeheure Zahl von Menschen auf der Flucht aus ihrer ursprünglichen Heimat. Zusammen mit anderen Organisationen hat sich die Volkssolidarität um Unterbringung und Notlagenbekämpfung bemüht.

Es ging um Vertriebene?

Der Begriff Vertriebene war ein politischer Begriff, aber damals wie heute waren es eben Flüchtlinge, egal aus welchen Gründen sie flüchten mussten.

Was macht die Volkssolidarität heute für Flüchtlinge?

Wir organisieren Nachbarschaftsdialoge, betreuen Flüchtlinge in unseren Stadtteilzentren, beraten Traumatisierte und sind aktiv bei der Entwicklung einer Willkommenskultur. Zum Beispiel sind im Stadtteilzentrum Marzahn 160 ehrenamtliche Helfer in der Flüchtlingsarbeit aktiv. Und ich bin ja zudem auch Mitglied im Beirat für Zusammenhalt, der die Flüchtlingsarbeit des Senats unterstützt.

72, Ex-Berliner Sozialsenatorin für die Linke. Seit 2010 Vorsitzende der Volkssolidarität, Landesverband Berlin.

Das Hauptaugenmerk der Volkssolidarität liegt heute nicht mehr auf Flüchtlingen, sondern auf der Seniorenarbeit. Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Wir liegen damit natürlich voll im Trend, weil die Gesellschaft insgesamt älter wird. Auch unsere Mitglieder sind älter geworden. Wir haben heute einen Altersschnitt von 77, 78 Jahren, was dazu führt, dass sich unsere Mitglieder auch aus eigener Betroffenheit in der Seniorenarbeit engagieren. Dabei geht es nicht nur um die zunehmend wichtigere Unterstützung in der Pflege, sondern auch um gemeinsam organisierte Freizeit und um Kulturangebote.

Wenn alle immer älter werden: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?

Ich denke, dass die Stadtpolitik einen neuen Schwerpunkt braucht. Im Moment konzentriert sich alles darauf, der Stadt ein hippes und modernes Image zu geben. Und ich mache mir schon Gedanken, ob man die älteren Menschen dabei nicht aus dem Blick verliert.

Im Oktober 1945 entstand die Volkssolidarität zuerst in Dresden durch einen gemeinsamen Aufruf „Volkssolidarität gegen Wintersnot!“ der Parteien, des Gewerkschaftsbundes und der Kirchen in der damaligen Sowjetischen Besatzungszone. In der DDR wurde sie zur einer wichtigen Massen­organisation zur Betreuung älterer Menschen.

Der Berliner Landesverband hat heute 18.000 Mitglieder, davon arbeiten rund 3.000 ehrenamtlich. Er betreibt vor allem im Ostteil der Stadt knapp 70 Einrichtungen, darunter Kindertagesstätten, Stadteilzentren, Senioreneinrichtungen und Begegnungszentren. 2014 sammelte er rund 300.000 Euro Spenden ein, dazu zahlen die Mitglieder Beiträge ein. Für diverse Projekte gibt es Fördergeld. Die Berliner Tochtergesellschaften des Landesverbands haben einen jährlichen Umsatz von rund 53 Millionen Euro.

Am Samstag, 5. September, feiert die Berliner Volkssolidarität ihren 70. Geburtstag mit einem Familienfest im Tierpark Friedrichsfelde. Ab 14 Uhr gibt es ein kinderkompatibles Musik- und Bühnenprogramm, unter anderem mit den Prinzen. Zu den Festrednern gehören der Regierende Bürgermeister sowie die Lichtenberger Bezirksbürgermeisterin. (sum)

Ein Beispiel?

Die Kernfrage ist: Wie gelingt es, eine Wohnsituation zu schaffen, die behinderten- und altengerecht ist – und die dazu beiträgt, dass die Menschen trotzdem integriert bleiben? Man kann ja keine isolierten Inseln für die Alten schaffen, sie müssen in ihren Quartieren bleiben können. Dafür braucht es mehr Wohnungen, die ihren Möglichkeiten entsprechen. Und es muss in erreichbarer Nähe für die älteren Menschen Begegnungsstätten geben, in denen sie sich austauschen können. Solche Räume zu schaffen ist eine unserer zentralen Aufgaben.

Apropos: Wie steht es um die Stille Straße, den Seniorentreff in Pankow? Kürzlich hieß es, er müsse wohl doch zum Jahresende schließen?

Ich gehe davon aus, dass es nicht so weit kommt. Der Bezirk hat zugesagt, uns ein Ersatzgrundstück anbieten zu wollen – und wir wären bereit, etwas Neues aufzubauen und den Seniorentreff mit reinzunehmen. Es gab auch schon Ideen, wo man das – in fußläufiger Nähe zur Stillen Straße – machen könnte. Ich denke, dass der Treff an Ort und Stelle bleibt, bis diese Alternative geschaffen wurde.

Auch andernorts rebellieren immer öfter Senioren, wenn sie vertrieben werden sollen – etwa die Mieter vom Hansa Ufer 5, dem privatisierten Seniorenhaus. Gibt es ein neues politisches Bewusstsein unter Senioren?

Ich glaube, schon. Senioren arbeiten heute stärker zusammen und es gibt entsprechende Organisationen, die das fördern und eine fortschrittliche Seniorenarbeit machen – das ermuntert sie natürlich auch, sich einzumischen. Sie lassen sich das nicht mehr gefallen, wenn sie abgeschoben werden, sie wollen mitmachen, solange es irgendwie geht. Ich finde das sehr gut: Denn in dem Maße, wie die Gesellschaft älter wird, ist es auch nötig, dass dieser Teil der Gesellschaft aktiv ist und die Gesellschaft mitgestaltet.

Zurück zur Volkssolidarität: Wieso sind Sie nie nach Westberlin gegangen? Bis heute gelten Sie ja als reiner „Ossi-Verein“.

Ja, aber das stimmt schon längst nicht mehr. Wir haben schöne Projekte im Westen: Unser ambulanter Hospizdienst ist vor allem im Westen aktiv, das Projekt „Männer gegen Gewalt“ ist auch im Westen angesiedelt. Aber in der Tat liegt der Schwerpunkt unserer Arbeit im Osten.

Was ist der Unterschied zwischen Ihnen und anderen Wohlfahrtsverbänden, etwa der Arbeiterwohlfahrt?

Der größte Unterschied ist meiner Meinung nach, dass wir ein auf die Basisarbeit konzen­trierter Verband sind. Wir haben natürlich auch Heime und Pflegeeinrichtungen. Aber der Kern unserer Aufgabe ist die Betreuung unserer Mitglieder und dass wir sie in ihrem ehrenamtlichen Engagement unterstützen. Davon lebt die Volkssolidarität.

Vielleicht nicht mehr lange – bei einem Altersdurchschnitt Ihrer Mitglieder von 77 Jahren. Was tun Sie, um sich zu verjüngen?

In der Tat müssen wir uns umorganisieren. Wir sind uns im Klaren, dass wir einen drastischen Mitgliederverlust haben und damit die Beiträge und Spenden zurückgehen werden. Wir haben in der Stadt derzeit sechs Bezirkseinrichtungen, das können wir uns unter diesen Bedingungen nicht mehr leisten. Es gibt die Idee, künftig nur noch drei Regionalstellen zu haben, mit Treffpunkten und allem, aber die müssen natürlich für unsere Mitglieder gut erreichbar sein. Dieser Übergangsprozess ist eine große Herausforderung.

Und wie wollen Sie mehr junge Leute ansprechen?

Ich sag mal so: Ehrenamt machen junge Leute auch – und zwar sehr engagiert. Da haben wir eine gute Chance, junge Menschen einzubeziehen. Bei der Flüchtlingsarbeit funktioniert das auch schon ganz gut. Für die anderen Bereiche müssen wir das jetzt verstärkt angehen.

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