Bibliotheks-Besuch VII: Die Sonntagsleser

Die Bücherei in Bremen-Gröpelingen leistet bildungspolitische Basisarbeit. Das Haupthaus führt derweil, als bundesweite Vorreiterin, einen zähen Kampf um die Sonntagsöffnung.

Eine Zweigstelle, die ihren Zweck voll erfüllt: In Gröpelingen gibt es nur halb so viele AbiturientInnen wie im Bremer Durchschnitt - aber fast ebenso viele Bibliotheks-BenutzerInnen. Bild: Henning Bleyl

Der Platz ist voller Kinder. Sie stehen an Staffeleien, malen auf dem Boden, werden von kopfbetuchten Müttern im Wagen geschoben. Das Gebäude dahinter sieht ein bisschen aus wie ein Schiff. Beladen mit Büchern.

Früher wurden in Gröpelingen, im Bremer Westen, echte Schiffe gebaut. Riesige Schiffe waren das, viele Schiffe, und jetzt kein einziges mehr. Aus dem Stadtteil der stolzen Werftarbeiter ist ein Hauptquartier der Erwerbslosigkeit geworden. Hier haben sehr viele Leute Zeit zum Lesen. Theoretisch.

Theoretisch? Betritt man die Zweigstelle West der Bremer Stadtbibliothek, das Schiff, trifft man jede Menge Menschen. Jeden Tag 600. Andreas Gebauer kennt die meisten von ihnen, jedenfalls vom Sehen. Seit 14 Jahren arbeitet er hier. Anfangs konnte er sich die Gesichter sehr viel leichter merken, weil es deutlich weniger waren. Aber da hatte das Bücherschiff seinen Stapellauf ja auch gerade erst hinter sich.

Gebauer steht auf einer der großen Galerien, die den ovalen Bauch des Gebäudes umschließen. „Das ist für mich die Ladezone“, sagt er, und zeigt auf die großen Flächen im mittleren Stock, „wie in einem Container-Carrier.“ Es ist eine Einlade-Zone: Rollt man die Regale beiseite, haben 150 Leute Platz. Die Zweigstelle versteht sich als Quartiers-Wohnzimmer. Die „Plattschnacker“ treffen sich hier ebenso wie der türkische Elternverein, vor der Tür ist das „Mobile Atelier“ aktiv. Man ist nicht Anhängsel eines großen Einkaufszentrums wie andere Bücherei-Filialen, sondern selbst eine Zentrale. Ein Mittelpunkt des Stadtteils.

Vergleicht man dessen soziale Kennzahlen mit dem Bremer Durchschnitt, zeigen sich fatale Verdoppelungen: Fast jeder vierte Gröpelinger bezieht Grundsicherung, beinahe zweimal so viele wie stadtweit. Da wiederum haben doppelt so viele Abitur. 41 Prozent der Gröpelinger sind migrantischer Herkunft, 23 Prozent erwerbslos. Aber, und das ist das wirklich Bemerkenswerte: Der Anteil der Bibliothekskarten-InhaberInnen ist hier mit zehn Prozent fast so hoch wie in Bremen insgesamt. Wie schafft man das?

Durch die gezielte Einbeziehung von Kindern: Als Gebauer seine Stelle antrat, kamen pro Jahr 14 Klassen in die Bibliothek. Jetzt sind es 350. „Schnelle Erfolge gibt es nicht“, betont der Bibliothekar, „man muss ein Beziehungsgeflecht aufbauen.“ Missverständnisse sind inbegriffen: Immer mal wieder wollen Eltern ihre Kinder an der Büchereitür einfach „abgeben“. Aber auch die Bibliothek geht gelegentlich von falschen Voraussetzungen aus: Als sie einen Schwung türkischer Bilderbücher anschaffte, wurden die Eltern sauer – „die türkischen“, sagt Gebauer. Denn ihre Kinder sollen ja Deutsch lernen. „Da hatten wir ein Eigentor geschossen.“

Das Stammhaus der Stadtbibliothek wurde 1902 eröffnet, die Zweigstelle West ist ihr ältester Ast. Zur Zeit der größten Verästelung, Mitte der 70er, gab es außer der Zentrale noch 43 weitere Bibliotheken: In den Quartieren und Schulen, im Gefängnis und als Patientenbüchereien. Heute sind es noch insgesamt neun. Doch warum man eine Bibliothek als physischen Ort braucht, wird in einem Stadtteil wie Gröpelingen auf ganz eigene Art deutlich. Hier leistet die Bücherei Basisarbeit. Die wenigsten AnwohnerInnen würden von sich aus die 24 Stunden-Online-Ausleihe nutzen, um zu Hause zu schmökern. Entscheidend ist nicht nur, dass es in der Bibliothek kompetente BeraterInnen gibt, sondern auch die Attraktivität des Ortes. Gebaut hat ihn Horst Rosengart, der den berühmten Fallturm der Bremer Uni entwarf. Dieser Turm ermöglicht Experimente mit der Schwerelosigkeit. Seine Bibliothek hingegen bremst den freien Fall, in dem sich die Stadtgesellschaft in Sachen soziale Segregation befindet.

Wäre es nicht wichtig, einen solchen Ort auch am Sonntag zu haben?

12 Prozent der Bremer haben einen Ausweis für ihre Stadtbibliothek. Das entspricht ziemlich genau dem Anteil, den die Einrichtung vom Bremer Kulturhaushalt bekommt.

Mit 550.000 Medieneinheiten ist sie eine der größten kommunalen Bibliotheken Norddeutschlands: Der Bestand ist exakt so groß, dass sich alle BremerInnen gleichzeitig etwas ausleihen könnten - vorausgesetzt, dass auch jedes der 2.600 Kunstwerke der hauseigenen Graphothek einen Liebhaber findet.

Rund 40 Ausleihen überlebt ein gebundenes Buch, ein Paperback nur halb so viele. Alle zwei Minuten wird ein neues Medium eingearbeitet - alle zehn Jahre ist der Bestand dadurch komplett erneuert.

Mit sieben Beschäftigten auf fünfeinhalb Stellen ist das kaum zu leisten. Aber sieben Kilometer stadteinwärts, im Haupthaus, kämpft Barbara Lison für die Sonntagsöffnung. Ihr Gegner ist das Bundesarbeitszeitgesetz: Dessen Verbot der Sonntagsarbeit kennt viele Ausnahmen, doch keine für öffentliche Bibliotheken.

Dass Theater und Museen dürfen, was sie nicht darf, auch Videotheken und wissenschaftliche Bibliotheken mit Präsenzbestand – das wurmt Lison schon lang. Seit 1992 leitet sie die Stadtbibliothek, und spätestens, seit sie Ende der 90er mit ihr in einen Licht durchfluteten Altbau umzog, da wollte ihr gar nicht mehr einleuchten, dass sonntags keiner rein darf. Ginge es nicht wenigstens im Winterhalbjahr – so wie in Skandinavien üblich?

Mit MitarbeiterInnen, die sich freiwillig meldeten, durfte sie das Haus im Winter 2012/13 tatsächlich sonntags öffnen. Als Modellversuch, den CDU und Grüne wollten, zu dem sich die SPD aber nur mit knapper Mehrheit durchrang. 800 BremerInnen strömten jeweils ins Haus, nahmen fast ebenso viele Bücher mit wie an Werktagen – und äußerten sich durchweg begeistert: „Wir als Familie schaffen es oft nicht, in der Woche herzukommen“, schrieb eine Mutter.

„Der Begriff familienfreundlicher Betrieb gilt auch für die Beschäftigten“, kontert der Personalrat. Der Sonntagsdienst verdichte durch späteren Zeitausgleich die Wochenarbeit: „Hier wird ein Freizeitangebot gewünscht, das zu Lasten der regulären Dienstleistung geht.“

Was aber ist „regulär“? „Büchereien müssen auf veränderte Lebensumstände reagieren und auch den Bedürfnissen Alleinerziehender und beruflich stark beanspruchter Menschen gerecht werden“, findet Frank Simon-Ritz, der Vorsitzende des Bibliotheksverbands. Insofern sei eine Sonntagsöffnung Teil des „öffentlichen Auftrags“. Die letzte Bundesratsinitiative zum Thema lief trotzdem ins Leere: 2012 unterstützten Bremen und Hamburg einen Antrag Berlins, scheiterten aber an den üblichen Fronten: Der Kulturausschuss des Bundesrates war dafür, der für Arbeit und Soziales hatte Bedenken. Seither lassen die Stadtstaaten ihren Antrag ruhen.

Auch die GegnerInnen haben gute Argumente. Kann man kommunalen Bibliotheken, von denen jede zweite mit einer Stellen-Wiederbesetzungs-Sperre belegt ist, weitere Öffnungen zumuten? Lison hat ihren Leuten Luft verschafft, in dem sie unter anderem die Automatisierung der Ausleihe vorantrieb. Klar ist: Auch sonntags muss qualifiziertes Personal da sein, sonst entstehen hessische Verhältnisse. Dort dürfen die Bibliotheken zwar seit 2009 sonntags öffnen – aber kaum eine tut es. Weil sie lediglich den Autowaschanlagen gleichgestellt wurden: Türöffnen ist erlaubt, Stammpersonal muss draußen bleiben.

Die Bremer Belegschaft ist in Sachen Sonntagsöffnung gespalten. Immerhin überdenkt jetzt der „Berufsverband Information Bibliothek“, der 6.300 Beschäftigte vertritt, seine kategorische Ablehnung. Ende März will er die Bremer Erfahrungen auf einer Anhörung diskutieren – aufmerksam beobachtet von der bundesweiten Bibliotheks-Szene. Hella Schwemer-Martienßen, Direktorin der Hamburger Öffentlichen Bücherhallen, sagt über die Sonntagsöffnung: „Ich wäre glücklich, wenn ich das noch in meiner Dienstzeit erleben dürfte.“ Die endet in fünf Jahren.

In Gröpelingen wird es sicher noch länger dauern.

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