Boris Pistorius über Gesichtserkennung: „Das Risiko bleibt“

Niedersachsens Innenminister heißt auch nach der Wahl Boris Pistorius (SPD). Doch in der Koalition mit der CDU muss er seine Politik neu justieren.

Unter 16 und schon radikalisiert: Polizisten sichern den Zutritt zum Prozess gegen die Islamistin Safia S. Foto: dpa

taz: Herr Pistorius, haben Sie sich von der CDU nach rechts ziehen lassen?

Boris Pistorius: Nein.

Im Koalitionsvertrag steht, dass Sie Gefährder nun 74 statt bisher zehn Tage einsperren wollen, ohne dass es eine Anklage gibt. Ist das nicht verfassungswidrig?

Die CDU wollte sogar anderthalb Jahre Präventivhaft. Herausgekommen sind nun gestaffelt zweimal 30 und einmal 14 Tage, jeweils gebunden an eine richterliche Entscheidung. Wir werden uns dabei an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte orientieren und die Präventivhaft klar auf terroristische Gefährder beschränken. Wir werden die gesetzlichen Bestimmungen natürlich so ausformulieren, dass es verfassungsmäßig ist.

Wenn jemand eine schwere staatsgefährdende Straftat plant, kann die Staatsanwaltschaft Untersuchungshaft beantragen. Warum ist das nicht genug?

Ich setze auch darauf, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren übernimmt, wenn der Anfangsverdacht ausreicht. Ich kann mir, ehrlich gesagt, auch nur ganz wenige Fälle vorstellen, wo die Präventivhaft überhaupt zur Anwendung kommt. In den meisten Fällen dieser Art wird die Grenze der Strafbarkeit überschritten sein. Dann käme es also gar nicht mehr zur Anwendung des Polizeigesetzes.

Geht es bei der Präventivhaft nur um die Gesinnung? Wenn jemand eine Straftat plant, könnte man ihn doch in U-Haft nehmen.

Nein, es geht natürlich nicht um die Gesinnung. Da würde ich nicht mitspielen. Nehmen Sie die beiden Gefährder aus Göttingen, die wir abgeschoben haben. Wenn das keine Ausländer gewesen wären, hätte man sie möglicherweise für 30 Tage in Gewahrsam nehmen können. Sie hatten entsprechende Absichten sehr deutlich formuliert – aber es gab eben noch keine konkreten Planungen. Ein Fall für Untersuchungshaft war das deswegen eben nicht. Aber es gab dennoch Handlungsbedarf.

57, trat mit 16 in die SPD ein, studierte Jura und ist seit 2013 niedersächsischer Minister für Inneres und Sport, vorher war er Oberbürgermeister in seiner Heimatstadt Osnabrück.

Was ändern denn 74 Tage? Danach sind die Betroffenen doch eher noch stärker radikalisiert.

Gegenfrage: Sollte man sie also einfach frei rumlaufen lassen?

Aber wenn sie keine konkrete Tat planen?

Wenn klar ist, dass jemand etwas vorhat, aber noch nicht die Grenze zur Strafbarkeit überschritten ist, muss der Staat tun, was möglich ist, um Sicherheit zu gewährleisten. Ich mache aber auch keinen Hehl daraus, dass die 74 Tage an meine persönliche Grenze gehen.

Können Sie konkreter machen, wen die Präventivhaft betrifft?

Wie schon gesagt: Ein Fall läge dann vor, wenn wir wissen, jemand hat tatsächlich etwas vor. Er weiß nur noch nicht, wann und wie. Der Staat muss signalisieren, dass er solche Leute im Auge hat und auch danach handeln. Allen ist klar, eine Präventivhaft, ganz egal wie lang, verhindert natürlich nicht, dass es danach nicht doch zur Tat kommen könnte. Ein Restrisiko bleibt leider. Es gibt keine 100-prozentige Sicherheit.

Warum ist es für Sie wichtig, dass der Verfassungsschutz leichter Informationen über 14-Jährige speichern kann?

Weil wir in den vergangenen Jahren gelernt haben, dass es inzwischen mehr Minderjährige unter 16 Jahren gibt, die sich radikalisieren, als vielleicht noch vor einigen Jahren. Das ist eine Entwicklung, die nicht nur wir in Niedersachsen, sondern auch die Sicherheitsbehörden der anderen Länder und des Bundes wahrgenommen haben. Eines möchte ich noch einmal klar darstellen: Es geht nicht um die generelle Beobachtung von Jugendlichen! Es geht um Speicherungen – also darum, zu wissen, um wen es sich im Einzelfall handelt.

Bisher darf der Verfassungsschutz nur Daten von Jugendlichen speichern, die selbst eine konkrete Straftat planen. Künftig soll es ausreichen, wenn sie sich in einer gewaltbereiten Gruppe bewegen.

Wenn sich 14-Jährige in einer Gruppe oder einem Umfeld bewegen, in dem Gewalt propagiert oder sogar gefordert wird, erhöht sich möglicherweise die Bereitschaft, selber Gewalt zu verüben. Es geht hier nicht darum, jemanden zu kriminalisieren. Aber wenn sich jemand in solchen gewaltbereiten Gruppen bewegt, sollten unsere Sicherheitsbehörden das von der- oder demjenigen wissen.

Wie helfen Sie denn den Jugendlichen, aus solchen Gruppen herauszukommen?

Das ist der entscheidende Punkt. In den letzten Jahren haben wir mit dem Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, der Kompetenzstelle Islamismusprävention, dem Aussteigerprogramm „Aktion Neustart“ sowie „beraten e.V.“ ein konkretes Angebot für Jugendliche und ein gut funktionierendes Frühwarnsystem entwickelt. Es war nie unser Ansatz, ausschließlich auf Repression zu setzen.

Ist ein Aussteigerprogramm für Linksextreme wirklich notwendig? In der linken Szene kann man doch einfach nicht mehr zu den Treffen hingehen.

Die Annahme, dass man Aussteigerprogramme nur deshalb braucht, weil man nicht ohne Angst vor Gewalt aussteigen kann, wäre falsch. Es geht auch darum, Angebote dafür zu machen, die eigene Einstellung erst einmal zu hinterfragen und diese dann möglicherweise zu verändern.

Die Vermummung bei Demonstrationen soll wieder von der Ordnungswidrigkeit zur Straftat werden. Hatten Sie das nicht abgeschafft, um der Polizei die Arbeit zu erleichtern?

Das gehört zu den Dingen, die man in einer Koalition aushandelt. Das ist im Übrigen keine entscheidende Frage für die Demonstrationsfreiheit.

Warum wollen Sie die Videoüberwachung mit Gesichtserkennung prüfen lassen?

Wir warten den Pilotversuch am Berliner Bahnhof Südkreuz jetzt erst einmal ab. Ich weiß nicht, wie zuverlässig das technisch ist oder überhaupt sein kann. Für mich ist die zentrale Frage, ob es um einen Negativ- oder Positivabgleich geht. Wenn der Datenbestand, der abgeglichen wird, der von 82 Millionen Deutschen ist, dann sind wir nicht dabei. Wenn es aber um den Datenpool gesuchter Gefährder und Straftäter geht, hätte ich damit deutlich weniger Probleme.

Das heißt, es muss ausgeschlossen sein, dass es Bewegungsprofile von Passanten geben kann?

Genau. Einfach grünes Licht wird es dazu nicht geben. Aber man muss sich das dennoch ansehen. Denn wenn es funktioniert, erleichtert es uns die Suche nach Straftätern und Gefährdern erheblich.

Beim Asyl gibt es Verschärfungen. Warum wollen Sie Menschen mit geringer Bleibeperspektive in Erstaufnahmeeinrichtungen halten und von dort direkt abschieben?

Das können Sie aus dem Koalitionsvertrag nicht entnehmen, dagegen habe ich mich auch eingesetzt. Dort steht nur, was die gesetzliche Lage heute schon festlegt. Wir wollen, dass diejenigen, bei denen eine Abschiebung kurzfristig realisierbar erscheint, zunächst in den Aufnahmeeinrichtungen bleiben. Das sind wenige Fälle. Zum Beispiel, wenn Papiere da sind oder bei Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten, also bei Fällen bei denen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ohnehin kurzfristig entscheidet.

Bei Dublin-Fällen, also Asylsuchenden, die über andere EU-Staaten eingereist sind, dauern die Verfahren häufig Monate. Diese Menschen würden Sie weiter auf die Kommunen verteilen?

Ja. Es hat keinen Sinn, Menschen über sechs, acht oder zehn Monate in den Einrichtungen zu belassen, wenn wir gar nicht wissen, wann sie tatsächlich abgeschoben werden können. Aber natürlich müssen wir darauf achten, dass jemand, der in drei Monaten abgeschoben wird, nicht auf die Kommunen verteilt wird. Das ist unsinnig, sowohl für die Kommunen als auch für die Betroffenen.

Was bedeutet es, wenn Sie schreiben, dass Sie Menschen abschieben wollen, die ihnen angebotene und zumutbare Integrationsleistungen nicht angenommen haben?

Jemand, der sich standhaft weigert, Integrations- und Sprachkurse zu besuchen, hat offensichtlich kein Interesse, sich hier zu integrieren. Das muss dann Konsequenzen haben. Und in diesen Fällen wollen wir eher abschieben als andere. Ich finde, das ist gerechtfertigt.

Wie definieren Sie zumutbare Integrationsleistungen?

Beispiel: Jemand, der einen Sprachkurs in zumutbarer Entfernung ablehnt, obwohl er ihm dreimal angeboten wurde.

Aber es kann dafür Gründe geben. Wenn jemand schwer traumatisiert ist zum Beispiel.

Das wird dann geprüft. Wir müssen Integrationsbereitschaft aber auch verlangen. Sonst funktioniert Zuwanderung nicht.

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