Brasilien vor dem WM-Achtelfinale: Die Seleção kratzt und beißt

Brasilien muss im Achtelfinale gegen Mexiko ran. In der Vorrunde spielte das Team nicht sonderlich schön, doch das machte den Erfolg aus.

Neymar schaut beim Spiel gegen Serbien über die Schulter

Brasiliens Star Neymar ist auch nur einer von elf Foto: ap

Das Jogo Bonito, das schöne Spiel, ist tot. Der Realismus hat Einzug gehalten ins brasilianische Auftreten. Der Autor Jonathan Wilson hat einmal festgestellt, dass alle großen Fußballnationen ihrer eigenen Tradition kritisch gegenüberstehen: In Deutschland schaute man neidvoll auf die Organisation und Effizienz italienischer Mannschaften, in Brasilien vermisste man die Körperlichkeit und den Einsatz der Engländer ebenso wie den Siegeswillen, die Mentalität der Deutschen; England und Italien neideten den Brasilianern die Finesse und Kunstfertigkeit der großen Helden.

Es geht immer um das, was man nicht hat; fußballerische Identität ist immer auch ein Mangel. Natürlich handelt es sich um grobe Erzählmuster, die einer detaillierten Analyse nicht standhalten; aber es sind eben auch jene Mythen, aus denen heraus sich die einzelnen Mannschaften erzählen lassen.

Diese Weltmeisterschaft hat mit vielen Mythen gebrochen, und einer dieser Mythen ist das schöne Spiel der Brasilianer. Gegen Serbien, das mit Aleksandar Mitrovic den garstigsten aller Stürmer mit dabei hatte, hat die Abwehr gekämpft und gebissen. Gegen die Schweiz war Brasilien die eindeutig bessere Mannschaft, ließ aber beste Möglichkeiten liegen und kassierte einen dämlichen Eckball-Treffer. Nur Costa Rica schaffte es, die brasilianische Defensive aus dem Spiel heraus zu gefährden – und verlor am Ende trotzdem 0:2.

Was das Erstaunliche an der brasilianischen Mannschaft ist: Tite, der Trainer, hat es geschafft, ihr Ruhe und Stabilität zu geben. Vor vier Jahren noch wurde Neymar erdrückt von all den Erwartungen und Hoffnungen, die auf ihm lasteten; und als er dann fehlte, im Halbfinale, brach das Team vollständig zusammen. Schwer vorstellbar, dass das heute noch passieren kann; zu sicher stehen sie im tiefen 4-3-3, und zu genau wissen sie jetzt auch, dass ihre Organisation das hält, was sie sich von ihr versprechen.

Im Unterschied zu 2014 – und im Unterschied zu Messis Argentinien – baut sich das Team nicht um Neymar herum. Er bekleidet eine Position, und wenn er das hervorragend macht, umso besser. Wenn nicht, gibt es andere, die einspringen.

Mehr als nur Neymar

Im Endeffekt hat sich die große Befürchtung, dass Neymars verletzungsbedingter Ausfall über weite Teile dieses Jahres die spielerische Qualität der Offensive in Mitleidenschaft zöge, als große Chance erwiesen: Das Team scheint gelernt zu haben, nicht auf Gedeih und Verderb auf ihn angewiesen zu sein. Gerade Philippe Coutinho hat gezeigt, dass er, wann immer er gebraucht wird, auch liefert; als Torschütze freilich, aber vor allem als Relais, das dem Spiel den Rhythmus gibt, dem der Rest dann folgen muss.

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Es war nicht eben spektakulär, was Brasilien bisher bot, aber solide. Wäre das Brasilien der Vorrunde ein Wein, es wäre wohl ein Weißburgunder: stabil im Geschmack, ohne große Sperenzchen, mit harmonischer Säure und seidig im Abgang. Dabei muss es nicht bleiben. Sporadisch hat man auch in der Vorrunde sehen können, was in der Vorbereitung und in der Qualifikation stilbildend war: dass die Mannschaft durchaus zu spektakulären, punktgenauen Angriffen in der Lage ist, die in mbappésker Geschwindigkeit vonstatten gehen.

Das ist Schönheit durch Effektivität, nicht durch Eleganz; eine neue Art des Jogo Bonito. Und Neymar, der sehr viel gelegen hat und die hundert Meter unter elf Sekunden kullert, wird dann als Zielspieler wieder mehr in den Mittelpunkt rücken können.

Diese Spielanlage ist gewissermaßen ein Spiegel der Mannschaft, von der sie 2014 auseinandergenommen wurde. Klar, Mexikaner haben in der Vorrunde Deutschland geschlagen, den Weltmeister. Jetzt aber müssen sie sich gegen eine Mannschaft beweisen, die tatsächlich wie einer spielt.

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