Bürgerentscheid im Ländle: Äh ja, äh nein, ich mein'... Jein!

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus? In Nürtingen wurden die Chancen und Risiken direkter Demokratie auf kommunaler Ebene diskutiert.

Weiß das „Volk“ immer besser Bescheid? In Nürtingen diskutierte taz.meinland über diese Frage Bild: dpa

von TORBEN BECKER

Im Juni gab es im baden-württembergischen Nürtingen einen Bürgerentscheid. Trotz aufwendiger Vorbereitungen war die Beteiligung der Bürger*innen gering. So kamen am 10. Juli in der Alten Seegrasspinnerei, einem alternativen Nürtinger Lebenszentrum für Klein und Groß, rund 80 Menschen zusammen, um am Runden Tisch von taz.meinland über Versäumnisse, Chancen und Ausblicke nach dem Bürgerentscheid zu diskutieren. Die taz.meinland Redakteur*innen Malaika Rivuzumwami und Paul Toetzke moderierten das Gerspäch.

Zunächst erörterten die geladenen Gäste Sarah Händel (Mehr Demokratie e. V.), Andreas Mayer-Brennenstuhl (Initiative Nürtingen ist bunt), Florine Mahmud (Vorsitzende Jugendrat Nürtingen) und Thaddäus Kunzmann (Demografiebeauftragter des Landes) den Inhalt des Entscheids, danach beteiligten sich die Besucher*innen rege am Gespräch. Gegenstand der Abstimmung war der Bau zweier Unterkünfte für Geflüchtete, die in der Nähe von Friedhöfen errichtet werden sollten. Die Haupteinwände gegen das Vorhaben variierten zwischen Lärmbelästigung und menschenunwürdiger Unterbringung.

Ja oder Nein – Sag schon!

Bereits zu Beginn der Diskussion stellte sich heraus, dass viele Bürger*innen mit der vereinfachten Beantwortung auf das vielschichtiges Thema unzufrieden waren: „Dass eine sehr komplizierte Fragestellung nur mit Ja oder Nein beantwortet werden soll, halte ich für fragwürdig“, so ein Wortmeldung aus dem Publikum.

Viele befanden sich in einem Wahldilemma, denn sie befürworteten den Bau der Unterkunft, nicht aber nach der vorgelegten Planung. Welche Möglichkeit blieb den Unentschlossenen? Unabhängig vom Ausgang des Bürgerentscheids fühlten sie ihre Positionen nicht berücksichtigt.

K wie Kompromiss - „das ist aktive Demokratie"

Florine Mahmud schilderte ihre Erfahrungen mit der Resonanz des Entscheids bei der jugendlichen Bevölkerung der Stadt: „Ich habe mitbekommen, dass die Menschen mit beiden Optionen nicht zufrieden waren. Es haben sich schon mehr Menschen damit auseinandergesetzt, als die, die dann wählen waren.“ Sie vermutet, dass aus der Gefühlslage heraus viele die Abstimmung boykottierten.

Andreas Mayer-Brennenstuhl sieht darin den Knackpunkt, denn die Befindlichkeiten der Menschen seien natürlich sehr unterschiedlich. Um dies zur Geltung zu bringen, rief die Initiative „Nürtingen ist bunt“ auf, ungültig abzustimmen. Anstelle eines Kreuzes sollten die Wähler*innen den Bürgerentscheid mit einem K wie Kompromiss versehen. Dieser Kompromiss sollte den Grundstein für weitere Verhandlungen legen. Immerhin 3,5 % wählten also K.

„Das ist in meinem Sinn aktive Demokratie“, so Mayer-Brennenstuhl. Darüber hinaus fühlten sich viele der Entscheidungsberechtigten von dem Thema nicht angesprochen, weil es in ihren Alltagsrealitäten eine geringe bis gar keine Rolle spiele. Die Wahlbeteiligung lag bei rund 30% Prozent. Die Gegner*innen des Bauvorhabens, zumindest der bisherigen Planung, kamen auf 18%. Sie hätten 20% gebraucht, um eine neue Ausformulierung des Vorhabens anzustoßen. Welche Bedeutung hat ein solcher Entscheid nun als demokratisches Instrument?

Direkte vs. Repräsentative Demokratie?

Aktive Demokratie gestalte sich zuvorderst im Gemeinderat, so Thaddäus Kunzmann. Hingegen müsse aber gefragt werden, ob es überhaupt im demokratischen Interesse wäre, dass eine 20%-Minderheit über eine allgemeine Meinungsbildung bestimmen könne. Sarah Händel widersprach beredt: „Ein 100%iges Ja. Das ist demokratisch.“ Es könne an diesem Abend nicht darum gehen, die Modelle der direkten und der repräsentativen Demokratie gegeneinander auszuspielen. Indes müsse man nach der optimalen Kombinationsmöglichkeit der beiden Systeme fragen.

"Politiker-Verdrossenheit" statt Politikverdruss

Fakt ist, dass demokratische Anteilnahme mehr als der zyklische Wahlurnengang ist. Bürger*innen müssen die Chance in einer Demokratie haben, an politischen Verhandlungsprozessen teilzuhaben. Die korrigierende Funktion des Bürgerentscheids ist dabei aber keine absolute. Denn die Anliegen der jeweiligen Interessensgemeinschaften werden immer von der Gemeinschaft als Ganzes beantwortet – entweder im Ausgang des Entscheids oder in den darauffolgenden Diskussionen. „Deswegen ist die Gefahr der rechten Übernahme nicht groß. Denn die Gemeinschaft als Ganze trägt die Antwort und den Ausblick auf die Zukunft“, stellte Sarah Händel fest.

Auf Politikverdrossenheit lässt sich das Thema nicht reduzieren. Vielmehr herrsche eine „Politiker-Verdrossenheit“, so eine energische Wortmeldung aus dem Publikum. Darin bestehe der Fluch aber auch die Chance in der repräsentativen Demokratie. Über direkte Einflussnahme ließe sich die Dominanz der Repräsentant*innen ausgleichen.

Demokratie als Muskel

2016 fanden Bürgerentscheide nur in 27 - und damit in weniger als 4% der insgesamt 1101 - Gemeinden in Baden-Württemberg statt. Das sei zu wenig um eine direkte demokratische Kultur zu entwickeln, resümiert Sarah Händel. „Bei der direkten Demokratie ist der Vorteil, dass wir nicht nur Repräsentanten wählen, sondern uns immer wieder fragen, wo wir stehen.“

Auch wenn der Bürgerentscheid als Instrument nicht flächendeckend angenommen wurde, stößt er Neues an. Ein Mann aus dem Publikum, der sich als Gemeinderatsmitglied vorstellte, forderte, dass der Gemeinderat nicht einfach Themen und Anliegen durchdrücken dürfe. Man müsse „immer zuerst auf die Bürger zugehen. Das ist Demokratie.“

"Der Preis für Demokratie kann nie zu hoch sein"

Bürgerentscheide bringen stets einen enormen Aufwand mit sich – sowohl finanziell, als auch gesellschaftlich. Aber: „Der Preis für Demokratie kann nie zu hoch sein,“ es gelte die Demokratie zu stärken und sei wichtig, dass es nicht nur um Bürgerentscheide geht, sondern um die meinungsbildenden Prozesse an sich, so Andreas Mayer-Brennstuhl.

Demokratie sei ein Muskel, der sich in jedem einzelnen Menschen entwickelte. Das sei das entscheidende Kriterium dafür, inwieweit die Bevölkerung der Souverän sei. In diesem Hinblick kann der Muskel aber nicht ohne die notwendigen demokratischen Leibesübungen gestärkt werden. Die Forderung des Abends war eindeutig. Für einen demokratischen Meinungsbildungsprozess müssen alle Themen geöffnet werden. Das geeignete Instrument hierfür sind direkte Abstimmungen, die als Korrektive in der repräsentativen Demokratie aufgehen können.

In ihrem Abschlussplädoyer unterstrich Sarah Händel diese Balance zwischen repräsentativer Demokratie und direkter Einflussnahme auf Bundesebene – das große Vorbild: die Schweiz. „Je höher die Ebene der Abstimmung, desto besser werden bei Volksbegehren partikulare Interessen integriert. Es ist wichtig, dass wir aus der Gesellschaft heraus politische Themen einbringen können. Hier muss jetzt was passieren – die Bevölkerung hat die Kraft, die politische Agenda mitzubestimmen. Davon muss sie Gebrauch machen!“